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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Post [Story]Okara



    Diese Geschichte ist ein Beitrag für den Wettbewerb Schreim naoch Buchstohm 7.

    Die Buchstabenzuweisungen:
    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Achtung, Spoiler! Öffnen auf eigene Gefahr!
    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Person A: Eduard
    Person B: Arved
    Person C: Godric
    Person D: Alva

    Ort A: Arveds Blutfliegenfarm
    Ort B: Das alte Bergwerk von Okara
    Ort C: Eduards Elternhaus
    Ort D: Haus des alten Händlers
    Ort E: Das Herz der Finsternis

    Problem 1: Jemand ist in Eduards Elternhaus eingebrochen.
    Problem 2: Eine bedrohliche Rune unter Eduards Elternhaus wurde aktiviert.

    Waffe 1: Flammenschwert
    Waffe 2: Sklaventod

    Gegenstand 1: Alte Karte von Silden und Umgebung

    Kreatur 1: Warg

    Hindernis 1: Magische Nebelwand

    Pfad 1: Sprung hinab in den Schacht
    Pfad 2: Weg durch das unterirdische Tunnellabyrinth

    Geändert von Laidoridas (12.11.2023 um 17:41 Uhr)

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Laidoridas ist offline
    Die Fütterungszeit war vorbei, aber es war noch etwas übrig geblieben.
    Er nahm das letzte Stück aus der Tonne und legte es auf dem Schneidebrett ab. Ein besonders dicker Oberschenkel, mehr Fett als Muskeln. Dieses Stück war ihm direkt ins Auge gefallen, und er hatte es bis ganz zum Schluss aufgehoben.
    Er nahm das größte Messer von der Küchenplatte, pellte die Haut ab und schnitt ein paar große Fleischbrocken heraus. Dann ging er mit dem Schneidebrett zum Herd hinüber, wo in einem Topf schon ein paar Pilze in Bisonmilch einweichten. Er gab das Fleisch hinzu und rührte ein paarmal um, bevor er die Herdklappe öffnete und die Glut mit dem Blasebalg anfachte. Mit dem feuchten Lappen wischte er das Gröbste vom Schneidebrett ab und wartete ab, bis die Bisonmilch zu blubbern begann. Der Eintopf würde eine Weile köcheln müssen.
    Er packte den Rest des Schenkels und trat ins Freie.
    Ein gerader Trampelpfad führte vom Haus weg, gesäumt von großen Eisenkäfigen, die bis zu den Baumwipfeln reichten. Viele waren verrostet, einige längst unbrauchbar. Nicht einmal in denjenigen, die noch bewohnt waren, regte sich etwas. Erst als er die kleine Gittertür öffnete und den blutigen Oberschenkel hineinwarf, erhoben sich ein paar der trägen, vollgefressenen Körper vom Boden. Fünf Blutfliegen hatten noch nicht genug. Ein tiefes Brummen ließ die abendliche Stille vibrieren, als sie zum Rand des Käfigs flogen und sich auf dem letzten Happen des Tages niederließen.
    Er stand am Gitter und sah seinen Tieren beim Fressen zu, bis auch das letzte bisschen Fleisch vertilgt war. Als nur noch der blanke Knochen zurückblieb, erhoben sie sich wieder in die Lüfte, um sich ein paar Flügelschläge später im Schatten einer großen Eiche niederzulassen.
    Die Fütterungszeit war vorbei, endgültig.
    Jedenfalls für die Fliegen.

    „… und wenn du den Riegel vorgeschoben hast, dann nur noch einmal vorne mit der Kette rum und einrasten. Zum Schluss dann hier mit dem großen Schlüssel… zack! … und da nochmal mit dem kleinen abschließen. So, siehst du?“
    Müde ließ Eduard den Blick über die vier verschiedenen Schlossvarianten der Haustür schweifen und nickte. „Ja, alles klar.“
    „Am besten machst du sofort alles zu, wenn wir weg sind“, riet ihm sein Vater, schloss alles wieder auf und drückte ihm den Schlüsselbund in die Hand. „Da kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Letzten Monat sind sie in Gotha wieder eingebrochen, am helllichten Tag. Wenn die denken, dass keiner zuhause ist, dann fackeln die nicht lange. Richtige kriminelle Banden sind das, und unsere tolle Gerichtsbarkeit guckt mal wieder weg.“
    „Jetzt mach dem Jungen doch keine Angst.“ Eduards Mutter quetschte sich mit einem dicken Koffer in jeder Hand an ihnen vorbei. „Uns ist hier noch nie irgendwas passiert, mach dir da mal keinen Kopf. Als ob sich irgendwelche Banden ausgerechnet unser verschlafenes Nest aussuchen. Das lohnt sich doch überhaupt nicht.“
    „Na, du wirst dich noch umgucken“, schnaufte sein Vater. „Wenn sie erstmal deinen Kram geklaut haben, dann ist es zu spät, dann geht das große Gejammer los. Und den Ärger hab ich dann wieder.“
    „Ich schließ schon gut ab, keine Sorge“, versuchte Eduard die Stimmung zu retten, während seine Mutter augenrollend die Koffer zur Kutsche schleppte. Dem Steingolem, der vor den Kutschbock gespannt war, machte es zum Glück nichts aus, dass sich die Abreise ein bisschen länger hinzog als gedacht. Das große Ungetüm starrte stoisch geradeaus, eingetaucht in blutrotes Abendlicht. Es war der gleiche Golem, mit dem Eduard heute Mittag hier in Okara angekommen war, und er hatte sich seit seiner Ankunft nicht vom Fleck gerührt. Das war der große Vorteil von Golems, denn einem Kutscher aus Fleisch und Blut hätte man schon eine Menge Tee, Knabberkram und Lesestoff anbieten müssen, um ihn ein paar Stunden lang bei Laune zu halten. Doch so sehr er sich auch für Golems begeistern konnte, ein bisschen merkwürdig hatte es Eduard dann schon gefunden, ein paar Stunden lang ganz ohne menschliche Gesellschaft durch unbewohnte Waldlandschaften kutschiert zu werden. Noch immer konnte er das beklemmende Gefühl der Einsamkeit nicht ganz abschütteln: Auch Okara selbst, der Schauplatz seiner Kindheit und Jugend, wirkte in seiner Erinnerung viel lebendiger als im Hier und Jetzt. Die meisten Häuser waren leere, verrammelte Holzruinen in unterschiedlichen Stadien des Verfalls, mit Dächern halb begraben unter dem Laub der letzten Jahre. Eduard fragte sich, wie lange es seine Eltern hier wohl noch aushalten würden, denn der ideale Ort um alt, krank und pflegebedürftig zu werden war dieses Okara mit Sicherheit nicht. Aber es war eben ihr Zuhause, und bisher schienen sie keine Anstalten zu machen, es zu verlassen – jedenfalls nicht länger als für ein paar Tage, um ihre alten Freunde in Nordmar zu besuchen.
    „Du machst das schon, Junge“, sagte sein Vater und klopfte ihm auf die Schulter. „Danke, dass du hier die Stellung hältst.“
    „Mach ich doch gerne“, versicherte Eduard. „Wie gesagt, die Stille hier ist genau richtig, um in aller Ruhe an meiner Abschlussarbeit zu schreiben. In Vengard gibt es ja ständig irgendwas, das einen ablenkt.“
    „Oder vielleicht irgendwen?“, mischte sich seine Mutter süffisant lächelnd ein, als sie mit leeren Händen und schweißnasser Stirn wieder von draußen hereinkam. „Was macht denn eigentlich die Rebecca? Von der hast du ja schon ewig nichts mehr erzählt.“
    „Weiß nicht, ich glaub die studiert auch noch in Vengard“, brummte Eduard. „Hab ich aber schon ewig nicht mehr gesehen.“
    „Ach Mensch, das war doch immer so eine Nette, findest du nicht? Die Rebecca und du, ich dachte immer, ihr beiden…“
    „Mama, nun ist aber gut.“
    „Ich mein ja nur!“ Sie legte die Arme um ihn und drückte ihn an sich, was Eduard geduldig geschehen ließ. „Du musst aber die Tage unbedingt mal bei Arved vorbeischauen. Ihr habt euch doch bestimmt jede Menge zu erzählen, so lange wie ihr euch jetzt nicht mehr gesehen habt.“
    „Wenn ich da Zeit für habe. Du weißt doch, ich hab nur noch zwei Wochen für die Arbeit, und es fehlt schon noch ein bisschen was.“
    „Ach, sei doch nicht immer so“, seufzte seine Mutter. „Arved freut sich bestimmt! Der kriegt doch auch nicht so viel Besuch, der Arme.“
    Eduard hatte keine Ahnung, ob Arved sich freuen würde. Er hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er selbst aus Okara weggezogen war und sein Studium der Magitronik in Vengard begonnen hatte. Im ersten Jahr hatten sie sich noch hin und wieder geschrieben, aber dieser Briefwechsel war dann auch irgendwann eingeschlafen. Anders als früher, als sie noch beide die gleiche Schule in Silden besucht hatten, gab es auch nicht mehr viel Gemeinsames, über das sie sich hätten austauschen können. Nach dem Tod seiner Eltern hatte Arved den Familienbetrieb übernommen, eine Blutfliegenfarm, die früher wohl ordentlich Gewinn abgeworfen hatte. Inzwischen war Blutfliegensekret nur noch etwas für Esoteriker und Alchemisten der ganz alten Schule, aber es genügte offenbar noch, damit Arved dadurch seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.
    So richtig verstehen konnte Eduard trotzdem nicht, was ihn noch hier in Okara hielt. Damals zu Schulzeiten hatte Arved die Vorstellung noch ganz entsetzlich gefunden, den Rest seines Lebens in der Gesellschaft von Blutfliegen zu verbringen, und die Hälfte ihrer Gespräche hatte sich darum gedreht, was sie alles machen würden, wenn sie endlich weg aus Okara wären. Es war schon merkwürdig, wie sich die Dinge manchmal entwickelten, dachte Eduard. Kaum jemand hatte damals so dringend weg von hier gewollt wie Arved, und jetzt war er einer von ganz wenigen, die es noch nicht in die Städte getrieben hatte. Einer, der noch die Stellung hielt, wie es Eduards Vater ausdrücken würde. Aber was wusste Eduard schon, was in seinem alten Schulfreund jetzt vor sich ging. Sie waren ja keine Kinder mehr, und vielleicht war es damals bloß eine rebellische Phase gewesen. Vielleicht fühlte sich Arved dem Vermächtnis seiner Eltern verpflichtet, vielleicht mochte er das einsame Leben auf der Blutfliegenfarm am Ortsrand doch lieber als er es damals selbst für möglich gehalten hätte. Alles was Eduard sicher wusste, war, dass er Arved nicht besonders dringend wiedersehen wollte.
    „Ja, mal gucken. Wenn es ganz gut läuft mit der Arbeit, dann vielleicht.“
    „Du schaffst das schon“, glaubte seine Mutter. „Hoffentlich schmeckt dir, was ich für dich gekocht habe. Bloß nicht vergessen, alle zehn Stunden den Manatank im Keller aufzufüllen, sonst taut im Gefrierraum alles auf und du musst nachher doch noch selber an den Herd!“
    „Apropos Manatank.“ Eduards Vater war gerade damit fertig geworden, die Verriegelungen an allen Fenstern noch einmal einer abschließenden Prüfung zu unterziehen. „Der Manatank versorgt ja auch den Blitzzaun, deswegen habe ich ihn sicherheitshalber eben nochmal aufgefüllt. Da musst du nur noch gleich den Hebel am Zaun ziehen, wenn wir weg sind. Am besten machst du das gleich als Erstes, ja?“
    „Mach ich“, versprach Eduard. Der Blitzzaun war die neueste große Anschaffung seines Vaters: Er umspannte das gesamte Grundstück und sollte marodierende Verbrecherbanden mit der Kraft eines mittelstarken Blitzzaubers von unbefugtem Eindringen abhalten. Eduard fand, dass sein Vater froh sein konnte, dass keine Leute mit Haustieren oder kleinen Kindern mehr in Okara wohnten – in einer dicht bewohnten Stadt wie Silden oder gar Vengard hätte er bestimmt längst ein paar Klagen am Hals gehabt.
    „Aber nicht zu fest ziehen, nur ganz vorsichtig“, ergänzte sein Vater. „Nach fest kommt lose.“
    „Das brauchst du ihm doch alles nicht zu erklären“, seufzte seine Mutter kopfschüttelnd. „Er studiert das doch.“
    Eduard war kurz davor einzuwenden, dass es beim Studium der Magitronik natürlich nur sehr selten um die Frage ging, wie dolle man an irgendwelchen Hebeln zu ziehen hatte, aber am Ende hätte sich daraus nur wieder eine längere Diskussion und im schlimmsten Fall ein Streit ergeben. Nach wie vor war er fest entschlossen, die Zeit bei seinen Eltern so harmonisch wie möglich zu gestalten – und die Chancen dafür standen ja nicht schlecht, nachdem sie die meiste Zeit gar nicht da sein würden.
    „Tja, dann wollen wir wohl mal.“
    Das war das Stichwort, auf das Eduard gewartet hatte. Nacheinander nahmen ihn seine Eltern in den Arm und herzten ihn so fest, dass Eduard fast ein schlechtes Gewissen bekam, die ganze Zeit so genervt von ihnen zu sein.
    „Du kommst schon zurecht, Junge, oder?“, vergewisserte sich sein Vater noch einmal, als sie schon draußen vor der Kutsche standen.
    „Macht euch mal keinen Kopf“, sagte Eduard und half seinen Eltern beim Einstieg in die Passagierkabine. „Das Haus wird schon noch stehen, wenn ihr wieder da seid. Seht ihr mal lieber zu, dass ihr nicht als Eisblock aus Nordmar zurückkommt.“
    „Wenn wir dieses furchtbare Teleportieren bloß schon mal hinter uns hätten“, seufzte seine Mutter. „Daran werd ich mich wohl nie gewöhnen.“
    Eduard konnte ihr da nicht beipflichten, für ihn war vielmehr die Kutschenfahrt der gewöhnungsbedürftige Teil der Anreise gewesen. Vielleicht lag es daran, dass seine Mutter in einer Zeit aufgewachsen war, in der Teleportzauber noch ein Privileg von Magiern und reichen Leuten gewesen waren. Er selbst hingegen hatte schon als Schulkind einen prall gefüllten Beutel mit Teleportrunen besessen. Das waren ein paar verrückte Jahre gewesen, die Jahre der großen allgemeinen Teleportbegeisterung, in denen kaum jemand auf die Straße gegangen und ständig irgendwer aus dem Nichts vor einem aufgetaucht war. Als Kind hatte er über die Gefahren kaum einen Gedanken verloren, aber inzwischen kannte jeder die Erzählungen über die bizarrsten und grausamsten Unglücke, und einige der bedauernswerten Opfer von Teleportunfällen hatten es zu einer Art von Berühmtheit gebracht, um die sie wohl kaum jemand beneidete. Vielleicht waren es aber in erster Linie die spektakulären Einbrüche in den schickeren Vierteln von Geldern, Barakesh und Vengard gewesen, die letztendlich zu der strikten Reglementierung des Teleportzaubers geführt hatten, wie sie heutzutage Realität war. Jetzt gab es nur noch feste Teleporter in den Städten, an wichtigen Knotenpunkten oder Sehenswürdigkeiten, die alle zu benutzen hatten. Alle, außer die Magier und die reichen Leute natürlich. Niemand hatte sich jedenfalls die Mühe gemacht, einen Teleporter für die letzten paar Einwohner von Okara zu errichten – während sich Eduard früher noch frisch verschlafen aus dem Bett ins Klassenzimmer hatte zaubern können, führte heute also um eine Kutschfahrt durch den Wald kein Weg vorbei. Und obwohl Eduard einsah, wieso das letztendlich die bessere Lösung war, konnte er nicht anders, als darin einen Rückschritt zu sehen.
    „Bis bald, Junge!“
    „Wir denken an dich! Und mach auch mal Pause zwischendurch, ja?“
    „Mach ich. Kommt heil an!“
    Steine knirschten und winzige Sandkörnchen rieselten zu Boden, als der Golem zu neuem Leben erwachte und die ersten bollernden Schritte tat. Eduard winkte der Kutsche hinterher, bis sie irgendwann nach einer Biegung zwischen den Bäumen verschwunden war. Eine gute Minute lang war das Stampfen des Golems noch in der Ferne zu hören, dann war es zum ersten Mal seit Eduards Ankunft in Okara wieder völlig still.
    Er atmete tief aus, streckte die Arme durch und schlenderte zurück zum Haus. Es war fast unwirklich, wie ruhig es von einem Moment auf den anderen geworden war. Die Nachbarhäuser wirkten allesamt unbewohnt, der Garten des Grundstücks gegenüber völlig überwuchert. Nirgendwo brannte ein Licht, nicht einmal ein Insekt konnte er zirpen hören. Vielleicht waren seine Eltern wirklich die Letzten gewesen, die diesen Ort noch am Leben gehalten hatten. Jetzt, da sie fort waren, war Okara in ein tiefes Koma gefallen und erwartete ohnmächtig ihre Rückkehr.
    Eduard rieb sich die Arme, auf der sich die Härchen aufgestellt hatten. Ohne die paar Sonnenstrahlen, die sich vorhin noch durchs Blätterdach gekämpft hatten, wurde es hier ganz schön schnell fies fröstelig. Er schloss die Pforte des Blitzzauns hinter sich, ging zurück ins Haus und verriegelte pflichtbewusst alle vier Schließmechanismen der Eingangstür. Jetzt hatte er das Haus also für sich.
    Eduard öffnete die Tür zum Gefrierraum und nahm sich eine Portion der leckeren selbstgemachten Eiscreme seiner Mutter, von der sie eine großzügige Menge für ihn vorbereitet hatte. Blauflieder und Waldbeeren, so wie er es schon als Kind immer am liebsten gemocht hatte. Er ging die Treppe nach oben, während an den Wänden wie von selbst kleine Kugeln des Lichtzaubers aufleuchteten und wieder erloschen, nachdem er im oberen Stockwerk angekommen war. Dort befand sich die Tür zu seinem alten Kinderzimmer, den seine Eltern inzwischen offenbar als Abstellraum für allerlei Krempel benutzten. Sein Schreibtisch von damals stand aber immer noch an der gleichen Stelle wie immer, und sein altes Bett wartete auch schon auf ihn. Eduard stellte die Schale mit der Eiscreme auf dem Tisch ab, griff in den großen Rucksack, den er aus Vengard mitgebracht hatte, und zog zwischen Magitronik-Fachbüchern und Notizzetteln ein paar kleine Murmeln und eine schmale, runde Steinscheibe hervor. In der Wand gleich neben dem Schreibtisch befand sich ein Anschluss zur Manaleitung, die sich durch das ganze Haus zog und es mit der magischen Energie versorgte. Er steckte die Scheibe ein, spickte die Murmel mit der Gravur Zombiekönig Rhobar, Staffel sechs, zweiter Teil heraus und platzierte sie in der Mulde an der Oberfläche der Abspielscheibe.
    Hunderte flimmernder Lichter schälten sich aus der Luft und verwandelten sein altes Kinderzimmer in den verwüsteten, lichterloh brennenden Thronsaal des untoten Monarchen Rhobar. Gemütlich aufseufzend plumpste Eduard ins Bett und schob sich den ersten Löffel Eiscreme in den Mund.

    „Maria… wieso… wieso nur? Erklär es mir, dein König befiehlt es dir!“
    „Es tut mir leid, Rhobar. Ich dachte, ich könnte dich lieben, aber General Lee hat mir die Augen geöffnet. Ein Zombie und eine Erwählte Innos’ werden niemals eine gemeinsame Zukunft haben.“
    „Lee würde dir jede noch so üble Lüge auftischen, um dich gegen mich aufzubringen! Wenn du Meister Pyrokar nicht den Portalschlüssel überlassen hättest, dann hätte er niemals in die Schattendimension vordringen und meinen unheiligen Thronsaal verwüsten können. Wie konntest du mir das antun, Maria? Hast du denn nicht auf dein Herz gehört?“
    „Wie könnte ich denn? Du hast es doch schon vor langer Zeit verspeist!“
    „Wie oft willst du mir das noch vorhalten, Maria? Ich dachte wir wären darüber hinweg.“
    „Das dachte ich auch. Aber ich habe mich geirrt. Mein Entschluss steht fest: Lee und ich, wir werden heiraten. Ich hoffe du kannst mir verzeihen!“
    „Niemals! General Lee, dafür wirst du bezahlen! Solange noch eine einzige Made in mir kriecht werde ich dich jagen, du verfluchter Bastard! Ich werde deine Eingeweide verspeisen und – ich – ich werde – ich werde euch alle – RAAAAAH!!!“
    „Rhobar, nein! Denk an unser ungeborenes Kind! Denk an – IIIIH!“

    Blut spritzte, Gedärme flogen durch die Gegend, und irgendwo rumpelte es dumpf. Dann war mit einem Schlag alles dunkel. Der Lärm des wütenden Zombiekönigs, die wummernde Musik, alles war verstummt.
    Eduard setzte sich im Bett auf und blinzelte verwirrt in die plötzliche Finsternis hinein. Nicht nur die Abspielscheibe war ausgegangen, auch die ganz normale Raumbeleuchtung war erloschen. War etwa der Manatank schon…? Nein, das war ausgeschlossen. Sein Vater hatte ihn doch kurz vor der Abreise noch aufgefüllt, und seitdem waren höchstens zwei oder drei Stunden vergangen. Wenn aber noch genug Mana im Tank war, dann musste es irgendeinen Defekt gegeben haben. Das war ja wieder typisch, dass ausgerechnet dann irgendwas kaputt ging, wenn er gerade da war. In den Augen seines Vaters war er dann natürlich wieder schuld, denn von nichts kommt nichts. Noch mehr Unbehagen bereitete ihm aber die Aussicht darauf, hier eine ganze Woche lang in Dunkelheit, ohne Unterhaltung und ohne einen funktionierenden Gefrierraum zu verbringen. Er musste das irgendwie in Ordnung bringen, und das so schnell wie möglich, bevor ihm alle Köstlichkeiten seiner Mutter wegschmolzen.
    Eduard war gerade vom Bett aufgestanden und hatte sich zur Tür vorgetastet, als er das Gerumpel erneut hörte. Das war nicht aus König Rhobars entweihtem Thronsaal gekommen, begriff er plötzlich. Das kam direkt von unten. Aus dem Erdgeschoss, oder vielleicht aus dem Keller. Konnte ein beschädigter Manatank solche Geräusche machen? Oder bedeutete das etwa… dass er nicht mehr allein im Haus war?
    Der Blitzzaun!, schoss es ihm plötzlich glühend heiß durch den Kopf. Er hatte vergessen, den verdammten Blitzzaun einzuschalten! Aber wie wahrscheinlich war es schon, dass wirklich irgendeine Verbrecherbande vorbeigekommen war, um ausgerechnet dieses Haus auszurauben, und das schon ein paar Stunden nachdem er hier die Verantwortung übernommen hatte? Trotzdem klopfte ihm das Herz bis zum Hals, während er regungslos im finsteren Raum stand und in die Stille hineinhorchte.
    Da hörte er das Knirschen.
    Es knirschte, und es knackte. Ein Schritt auf der Treppe, dann noch einer.
    Es war jemand hier.
    Jemand war eingebrochen.
    Dieser Jemand musste den Lärm hier oben gehört haben. Wusste, dass er hier war.
    Dieser Jemand war auf dem Weg zu ihm.
    Eduard stolperte zum Fenster, ertastete mit zittrigen Fingern den Griff und zog vergeblich daran. Sein Vater hatte alles abgeriegelt, natürlich. Und den Schlüsselbund, an dem auch die Schlüssel für die Fenster hingen, der lag jetzt irgendwo im Erdgeschoss herum, wahrscheinlich im Gefrierraum neben den Eistöpfen.
    Er war gefangen, begriff Eduard panisch.
    Die Schritte waren jetzt ganz nah. Jeden Moment musste die Tür aufgehen. Er musste hier raus, er musste irgendwie –
    Ein plötzlicher Gedanke riss ihn aus der Starre. Hastig stürmte er zu seinem alten Schreibtisch, stieß sich dabei das Knie an irgendeinem Möbelstück und tastete in der Dunkelheit, bis er den Knauf der Schreibtischschublade zu packen bekam. Ohne nachzudenken riss er sie heraus, ließ sie mit lautem Knall zu Boden fallen, und fuhr mit den Fingern an der Unterseite der Tischplatte entlang, bis er an etwas Kleines, Festes stieß. Das Baumharz, mit dem er es damals befestigt hatte, war nach all den Jahren immer noch so scheußlich klebrig wie er es in Erinnerung hatte.
    Die Schritte waren jetzt ganz nah.
    Jemand war direkt vor der Tür.
    Er griff zu, riss das kleine Ding mit einem Ruck vom Holz und schloss die Faust darum.

    Arved hatte gerade mit der Schöpfkelle die Hälfte des Eintopfes in eine große Schüssel gegeben, als er das Poltern hörte.
    Er hielt in der Bewegung inne, löste die Finger von der Kelle und griff nach dem Fleischermesser. Das Geräusch war von drinnen gekommen.
    Er war nicht allein.
    Ein Tier, sagte er sich, während er so lautlos wie möglich die Küchentür öffnete und mit gezücktem Messer den Korridor betrat. Ein wildes Tier, das sich verlaufen hatte. Das war schon einmal vorgekommen, vor ein oder zwei Jahren. Aber diesmal hatte er keine Tür offengelassen. Und Tiere öffneten keine Türen.
    Wieder hörte er es rumpeln und klappern. Er glaubte auch, ein leises Ächzen zu vernehmen, und war sich jetzt sicher, aus welchem Raum die Geräusche kamen: Der Lagerraum, sein altes Kinderzimmer.
    Mit angehaltenem Atem schlich er zur Tür und horchte. Er hörte jemanden schwer atmen hinter dieser Tür, und dann wieder ein Seufzen und Stöhnen. Seine Finger verkrampften sich um den Griff des Fleischermessers.
    Als die Tür von innen geöffnet wurde, schnellte seine Hand nach vorn und presste dem Eindringling die Messerklinge an den Hals.
    Es war ein Mann, ungefähr in seinem Alter, der ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarrte und ein halb ersticktes Japsen von sich gab. Arved brauchte eine Sekunde, bis er ihn wiedererkannte.
    „Ede?“
    Im ersten Moment fiel es ihm schwer zu glauben, dass der junge Mann in den feinen Großstädterklamotten und mit den kurz geschnittenen Haaren wirklich sein alter Schulfreund sein sollte. Es konnte aber kein Zweifel bestehen: Eduard hatte sich einen Vollbart wachsen lassen, der nicht ganz so voll war, wie er es wahrscheinlich gerne gehabt hätte, und seine Haut war nicht mehr so pickelig wie früher, aber die Gesichtszüge waren die gleichen.
    „Hallo Arved“, presste Eduard hervor. „Könntest du bitte…“
    „Was machst du hier?“, zischte Arved und löste das Messer von seiner geröteten Kehle. Sein Blick glitt hinab zu Eduards Hand, die einen kleinen, grauen Gegenstand umklammert hielt. „Du hast also immer noch einen von denen, was?“
    „Ich… okay, ich weiß, ich sollte hier nicht einfach…“, stammelte Eduard und wischte sich keuchend den Schweiß von der Stirn. Irgendetwas musste ihm eine gehörige Angst eingejagt haben, und Arved war sich nicht sicher, ob es wirklich bloß sein Messer gewesen war.
    „Du hast Glück, dass da kein Schrank stand.“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf die einzige Stelle im Raum, die nicht mit Kisten und Fässern vollgestellt war. „Das hätte auch ganz anders ausgehen können.“
    „Ich weiß.“ Eduard lehnte sich neben ihn an die Wand und atmete tief ein und aus. „Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken.“
    Arved versuchte sich ein bisschen zu entspannen – immerhin ging wohl kaum eine Gefahr von Eduard aus – aber es wollte ihm nicht so recht gelingen. Nichts hatte ihn darauf vorbereitet, dass sein alter Schulfreund so unangekündigt und plötzlich wieder vor seiner Nase auftauchen würde. So wie es Eduard damals immer gemacht hatte, als sie noch unzertrennlich gewesen waren. Am späten Abend, wenn sie beide eigentlich schon hätten schlafen sollen, hatte er sich regelmäßig in Arveds Zimmer teleportiert. Heimlich hatten sie sich die Nächte um die Ohren geschlagen, und manchmal hatte sich Eduard erst dann wieder zurückgezaubert, wenn schon die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster kamen. Natürlich hatten sie den Schlaf dann in der Schule nachholen müssen, was für ihn selbst immer ein größeres Problem als für den hochbegabten Eduard gewesen war. Wozu brauchte jemand, der bereits als Zwölfjähriger ohne jede Anleitung dazu in der Lage war, Teleportrunen zu manipulieren, denn schon im Unterricht aufzupassen? Eduard war stets alles zugeflogen, und das nicht bloß an dem einen Abend, als er es mit dem Telekinesezauber zu weit getrieben hatte. Bis vorhin war Arved noch davon überzeugt gewesen, dass er inzwischen längst selbst an der Universität zu Vengard unterrichtete und keinen Gedanken mehr an seine alte Heimat verschwendete.
    Aber jetzt war er hier. Wenn auch eher unfreiwillig, wie es den Eindruck machte.
    „Hör zu.“ Zum ersten Mal blickte ihm Eduard direkt in die Augen. „Ich brauche deine Hilfe. Ich… ich hab da ein Problem. Ein ziemlich großes Problem.“
    „Okay“, sagte Arved. „Ich höre.“
    „Meine Eltern sind eben weggefahren, und… ein paar Stunden später sind plötzlich alle Lichter ausgegangen und – jemand ist im Haus, Arved. Irgendwer ist eingebrochen. Ich hab mich gerade noch rechtzeitig an die alte Teleportrune erinnert, bevor… keine Ahnung was sonst passiert wäre!“
    „Eingebrochen?“ Arved runzelte die Stirn. „Haben deine Eltern nicht alles mit diesem magischen Zaun abgesichert?“
    „Ja, das… das hat irgendwie nicht richtig funktioniert mit dem Zaun“, erklärte Eduard nervös. „Ich wette, die räumen da jetzt gerade alles aus! Ich muss irgendwas unternehmen! Hast du… hast du vielleicht noch eine alte Teleportrune nach Silden? Wenn die Stadtwache schnell hier ist…“
    „Du weißt, dass wir die alten Runen alle abgeben mussten“, erinnerte ihn Arved und klang dabei vorwurfsvoller als er beabsichtigt hatte. Ob Eduard noch verbotenerweise alte Teleportrunen bei sind lagerte, das konnte ihm egaler kaum sein. „Du glaubst also, die Einbrecher sind noch da?“
    „Ja… keine Ahnung!“, jammerte Eduard. „Ich weiß es doch auch nicht!“
    Arved überlegte einen Moment, dann hatte er eine Entscheidung getroffen. Wenn es tatsächlich Einbrecher waren, dann würden sie sich womöglich auch sein eigenes Haus vornehmen. Außerdem würde dann früher oder später wohl wirklich die Stadtwache hier aufkreuzen. Auf beides konnte er gut und gerne verzichten.
    „Du bleibst hier stehen“, wies er Eduard an, der von diesem plötzlichen Befehl sichtlich irritiert war. „Du rührst dich nicht vom Fleck, klar?“
    „K… klar.“
    „Wir regeln das schon, okay? Ich bin gleich wieder zurück.“

    Die alte Holzfällerhütte befand sich ganz am Ende der langen Reihe von Blutfliegenkäfigen. Das Mondlicht schaffte es nur an wenigen Stellen durch das Blätterdach, also hatte Arved eine Öllaterne mitgenommen, die ihm bei der Orientierung half. In der anderen Hand hielt er die Eintopfschüssel, die er kurz abstellte, um das Vorhängeschloss vor der Hüttentür zu lösen. Der Gestank nach geronnenem Blutfliegensekret stieg ihm in die Nase, aber daran war er längst gewohnt. Im Frühling während der Stachelernte konnte er hier schon einmal mehrere Stunden am Stück mit dem Ausweiden der Fliegenkadaver verbringen. Diesmal aber würde er sich nicht lange aufhalten. Ihn interessierte nur die in den Boden eingelassene Klappe in der hinteren Ecke des Raumes. Er öffnete die Schlösser, zog die dicken Eisenketten ab und sperrte die Klappe auf. Dahinter kam eine verwitterte Steintreppe zum Vorschein, die hinab führte in den wohl ältesten Teil Okaras.
    Der Schein der Öllampe warf unruhige Schatten an die Felswände, als Arved hinab in die Dunkelheit stieg. Vor vielen Jahrhunderten waren diese unterirdischen Tunnel einmal als Erzmine angelegt worden. Später während der orkischen Besatzung hatten sie denjenigen Rebellen als Unterschlupf gedient, denen Okara seine Erwähnung in den myrtanischen Historienbänden verdankte. Aber niemand wusste, dass diese geschichtsträchtigen Gewölbe noch immer existierten. Sie waren seit langer, langer Zeit ein äußerst gut gehütetes Familiengeheimnis.
    Jetzt waren sie sein Geheimnis.
    Arved hielt inne, als er an der stabilen Eisentür angelangt war, die deutlich jüngeren Datums war als alles andere in diesen Höhlen. Er bückte sich, öffnete die kleine Luke, die auf Kniehöhe an der Tür angebracht war, und schob die Schüssel mit dem noch immer dampfenden Eintopf hindurch, bevor er sie wieder schloss. Das Klacken des einrastenden Riegels hallte noch in den Tiefen der alten Mine wider, als sich Arved mit der Öllampe in der Hand erneut in Bewegung setzte.
    Der in den Fels gehauene Gang machte eine Biegung und mündete in eine größere Höhle, die Arved für sich immer die Schatzkammer genannt hatte. Seit er das erste Mal einen Fuß in das alte Bergwerk gesetzt hatte, war dieser Raum derjenige gewesen, der ihn am meisten fasziniert hatte. Auf den ersten Blick wirkten die Kisten und Regale vielleicht wie ein Haufen alter Plunder, aber es war mit Sicherheit einer der wertvollsten und spannendsten Plunderhaufen des ganzen Kontinents. Arved wusste nicht, ob alle diese alten Artefakte aus der Zeit des zweiten Orkkriegs tatsächlich aus Okara stammten, aber sie waren jedenfalls von seinen Vorfahren hier gesammelt, bewahrt und über Generationen hinweg an ihn weitergereicht worden. Im Vorbeigehen ließ er den Blick über die vergilbte, hinter Glas eingerahmte Karte von Silden und Umgebung schweifen, in der mit roter Tinte die damaligen Stellungen der Orks eingezeichnet waren. Über die alten Morgensterne und Dolche, die wie auf der Auslage eines Waffenhändlers auf einem mit verstaubtem rotem Samt bedeckten Holztisch ausgebreitet waren. Über das Großschwert mit der pechschwarzen Klinge, das den Erzählungen seiner Eltern zufolge einmal einem Paladin gehört hatte und im Kampf lichterloh in Flammen gestanden hatte. Und schließlich: über die massive Armbrust, deren rötliche Bemalung im Laufe der Jahrhunderte verblasst war, ohne dass sie dabei an einschüchternder Brachialität eingebüßt hätte. Mit dieser Armbrust hatten damals Söldner im Auftrag der Orks Jagd auf entflohene Minenarbeiter und Rebellen gemacht. Das war Jahrhunderte her, aber die Waffe schien sich gut daran zu erinnern. Sie hatte immer etwas Aufforderndes an sich, etwas Gieriges.
    „Sklaventod“, flüsterte Arved leise ihren Namen, fast als müsste er sie um Erlaubnis bitten. Aber das musste er nicht. Sie gehörte ihm, und sie lag gern in seiner Hand. Und vielleicht würde ihre Gier heute einmal mehr gestillt werden, wenn auch wieder nur für eine Nacht.

    Eduard wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, seit Arved so plötzlich verschwunden war. Vielleicht waren es nur zehn Minuten gewesen, vielleicht auch eine halbe Stunde. Längst ärgerte er sich darüber, nicht genauer nachgefragt zu haben, was er eigentlich vorhatte – aber dazu war er einfach zu gehemmt gewesen. Er war ja dankbar dafür, dass ihm Arved helfen wollte, aber verstand er denn nicht, dass sie sich beeilen mussten? Er war schon mehrmals kurz davor gewesen, nach draußen zu gehen und nachzusehen, aber er traute sich nicht so recht aus dem Lichtschein des Herdfeuers heraus, das aus der Küche in die Finsternis des Korridors hereinschien. Außerdem war Arved sehr bestimmt gewesen in seiner Aufforderung, sich nicht vom Fleck zu rühren – und nachdem er ihn mit seinem plötzlichen Besuch schon so überrumpelt hatte, wollte er ihn nicht auch noch unnötig verärgern.
    Trotzdem, wieso brauchte er denn so lange? Die Einbrecher konnten schon über alle Berge sein. Vielleicht hatten sie schon das halbe Haus ausgeräumt, vielleicht –
    Eduard zuckte zusammen, als das Feuer in der Küche urplötzlich erlosch. Einen einschnürenden Moment lang war alles pechschwarz, dann tauchte das Licht einer Öllampe neben ihm auf.
    „Lass uns gehen, Ede.“
    Perplex folgte er Arved durch den Korridor zur Haustür und wartete ab, bis er sie aufgeschlossen hatte.
    „Was… was hast du da?“
    Arved hatte sich etwas auf den Rücken geschnallt. Im schwachen Licht der Lampe sah es aus, als würde ein merkwürdig verkrümmtes Schlangentier aus seinem Rücken wachsen.
    „Die Lösung“, sagte Arved, als sie gemeinsam ins Freie traten. „Die Lösung für dein Problem.“

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Es gab nur wenige Strecken auf der Welt, die Eduard so häufig zurückgelegt hatte wie den schmalen Trampelpfad, der von der Blutfliegenfarm den dicht bewaldeten Abhang hinunter ins Dorf führte. Und es gab ganz sicher keine andere, die ihm so viele Schürfwunden und blutige Knie eingebracht hatte, weil er es aus Gründen, an die er sich längst nicht mehr erinnern konnte, wieder einmal ein bisschen zu eilig gehabt hatte. In seiner Erinnerung aber schien dabei jedes Mal die Sonne durch die Baumwipfel, Vögel zwitscherten, und seine Mutter war auch nie weit, um seinem Knie ein Pflaster und seiner aufgerissenen Hose einen Flicken zu verpassen.
    Jetzt war es Nacht, und der Wald von Okara ein ganz anderer, ein viel stillerer Ort. Die Bäume, die Eduard im Schein von Arveds Öllampe erkennen konnte, kamen ihm so fremd vor, dass er sich beim Gedanken ertappte, dass ihn die Teleportrune womöglich ganz woanders abgesetzt hatte, in einem weit entfernten, endlosen Irrwald, aus dem er nicht mehr herausfinden würde.
    Nur noch nervöser machte ihn, dass sie sich die ganze Zeit anschwiegen. Er wollte irgendetwas sagen, um die bedrückende Stille zu brechen, aber konnte sich nicht dazu überwinden. Nach so vielen Jahren ohne eine einzige Nachfrage kam ihm jedes Wort falsch vor. Schließlich nahm ihm Arved die Aufgabe ab.
    „Wieso bist du eigentlich hier?“
    „In Okara, meinst du?“
    „Du hast gesagt, dass deine Eltern weggefahren sind, richtig? Wieso besuchst du sie dann ausgerechnet jetzt?“
    „Naja“, entgegnete Eduard etwas zögerlich. „Ich arbeite gerade an meiner Abschlussarbeit, und da ist so ein ruhiger, abgeschiedener Ort genau richtig. Zu viel Ablenkung ist das allergrößte Problem bei sowas, weißt du? Meine Eltern hatten zum Glück nichts dagegen.“
    Eigentlich hatte ihn sein Vater sogar ganz ausdrücklich darum gebeten. Aber dass es sein Vater sehr wichtig fand, das Haus ständig bewohnt zu halten, damit es marodierende Einbrecherbanden nicht als leichte Beute ausmachen und in aller Seelenruhe ausräumen konnten, das wollte Eduard nun wirklich nicht erklären. Mit der Paranoia seines Vaters in Verbindung gebracht zu werden war ihm immer noch unangenehm, selbst wenn sie sich jetzt offenbar als sehr berechtigt herausgestellt hatte.
    Sein Vater. Eduard musste ein Stöhnen unterdrücken, als er daran dachte, was sein Vater zu dem Einbruch sagen würde. Er hatte arge Zweifel daran, dass er ihm irgendwie glaubhaft machen konnte, dass es die Einbrecher über einen sorgsam eingeschalteten Blitzzaun geschafft hatten. Sein Vater war schon immer besonders gut darin gewesen, ihn für alle größeren und kleineren Katastrophen verantwortlich zu machen, und diesmal würde er sich dazu wohl nicht einmal besonders anstrengen müssen. Aber um das Donnerwetter seines Vaters über sich ergehen zu lassen, musste er erst einmal die anstehende Begegnung mit den Einbrechern überleben.
    Eduard fuhr zusammen, als über ihren Köpfen etwas in den Blättern raschelte. Kurz darauf glitt ein Schatten über sie hinweg.
    „Hast du das gesehen?“, flüsterte er. „Da war irgendwas.“
    Er verfluchte sich längst selbst dafür, dass er nicht etwas Wärmeres angehabt hatte, als er so Hals über Kopf aus seinem Elternhaus geflohen war. Es war so kalt, dass er schon fast mit den Zähnen zu klappern begann. Aber das war ja auch kein Wunder – natürlich hatte er sich auf einen gemütlichen Serienabend eingestellt und nicht auf einen nächtlichen Spaziergang durch ein einsames Walddorf.
    „Eine Eule“, sagte Arved unbeeindruckt. „Habt ihr sowas in Vengard nicht?“
    „Ja doch, ich dachte nur… weil es die ganze Zeit so still ist…“
    „Das Nachtleben ist hier nicht ganz so aufregend wie du es vielleicht gewohnt bist, ja.“
    Arved sagte das in einem merkwürdigen Tonfall, von dem sich Eduard irgendwie angegriffen fühlte. War er vielleicht doch frustriert davon, hier im Nirgendwo festzusitzen, mit einem Schwarm blutrünstiger Rieseninsekten als einziger Gesellschaft? Aber das war doch nicht Eduards Schuld. Es war ja nicht so, dass er ihn davon abgehalten hätte, mit ihm nach Vengard zu ziehen, ganz im Gegenteil. Und er konnte sich auch nicht daran erinnern, jemals ein feierliches Gelübde abgelegt zu haben, den Rest seiner Tage in Okara zu vergammeln.
    Weil Eduard nichts zu entgegnen wusste, hatte das kurze Gespräch schon wieder ein Ende gefunden. Schweigend arbeiteten sie sich den Abhang hinunter, bis sich der Wald ein wenig lichtete, der Weg breiter wurde und die ersten Häuser auftauchten. Nirgendwo brannte ein Licht. Sie passierten den kleinen Friedhof, wo Eduards Großeltern begraben lagen, bevor sie ein paar Häuser weiter zum Brunnenplatz gelangten. In seiner Kindheit hatten diesen Brunnen noch viele Leute benutzt, bis die Küchengeysire allmählich auch für die einfacheren Leute erschwinglich geworden waren. Mittlerweile hatte natürlich jeder mindestens einen zuhause, aber Eduard war sich nicht sicher, ob das der einzige Grund dafür war, dass dieser Brunnen so eingerostet wirkte.
    „Sag mal, wer wohnt hier eigentlich noch außer dir und meinen Eltern?“, durchbrach er die Stille. „Es sieht alles so verlassen aus.“
    Als Arved nicht antwortete, fragte sich Eduard schon, ob er irgendetwas Falsches gesagt hatte. Aber dann folgte er Arveds konzentriertem Blick und bemerkte es auch: Neben dem Brunnen kauerte etwas. Ein vierbeiniges Wesen mit struppigem Fell, das mit den Pfoten im Erdboden wühlte.
    „Ja, ein Hund“, sagte Eduard, dem sein lässiger Tonfall nicht ganz so selbstbewusst von den Lippen gehen wollte wie er es sich gewünscht hätte. „Sowas haben wir sogar in Vengard.“
    Arved reagierte darauf gar nicht.
    „Weißt du, wem der gehört?“, versuchte es Eduard noch einmal mit mehr Ernsthaftigkeit, aber Arved würdigte ihn keines Blickes. Er war stehen geblieben und löste die Armbrust von der Befestigung an seinem Rücken.
    „Hey, was hast du vor? Willst du wirklich –“
    „Still!“, zischte Arved scharf.
    Aber das Tier hatte schon von ihnen Notiz genommen. Es hatte das Wühlen eingestellt, und als es sich zu seiner vollen Größe aufrichtete, da offenbarte es einen massigen, buckligen Körper. Die Kreatur hob den Kopf, und aus der Finsternis starrten Eduard zwei leuchtend rote Augen an.
    Ehe er verstehen konnte, was er da vor sich sah, hatte das Tier mit zwei, drei schnellen Sätzen schon den Weg zu ihm zurückgelegt und sprang ihm fauchend entgegen. Hektisch machte er ein paar Schritte zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte auf den Rücken. Im nächsten Moment war das Monstrum über ihm und setzte die Klauen auf seinen Brustkorb. Völlig überwältigt starrte Eduard in das rote Glühen der Augen, die ihm jetzt ganz nah waren. Zerfledderte Sehnen und entblößte Knochen ragten aus dem pechschwarzem Fell heraus, und als das Tier sein Maul aufriss, da raubte ihm ein erdrückender, übler Gestank beinahe die Sinne. Panisch suchten Eduards Augen nach Hilfe, aber sie fanden nur Arved, der mit der gespannten Armbrust in der Hand dastand und nichts tat. Vergeblich versuchte Eduard die Bestie von sich wegzudrücken, während Arved regungslos verharrte und zusah. Zusah, wie die Bestie die Zähne in seinen Hals trieb und dunklen, zähen Speichel über seiner Haut vergoss. Beißende Schmerzen zuckten durch Eduards Körper, ihm blieb nichts mehr außer zu schreien – er schrie wie ein Wahnsinniger – bis ein dumpfes Geräusch direkt vor seinem Gesicht erklang. Das Biest jaulte auf, löste sich von seinem Hals und ließ endlich von ihm ab.
    Hektisch robbte Eduard auf dem Boden zurück und begriff erst jetzt, dass ein dicker Bolzen im Rücken der Bestie steckte. Arved hatte bereits den nächsten Bolzen eingespannt, und als die Kreatur gerade auf ihn losstürmen wollte, da bohrte sich das Geschoss mitten zwischen die rot glühenden Augen und brachte sie zu Fall. Sie schleppte sich noch ein paar Schritte weg von Arved und sackte dann schlaff neben dem Brunnen in sich zusammen.
    „Wieso hat das so lange gedauert?“, keuchte Eduard. Arved ging neben ihm in die Hocke und beleuchtete mit der Öllampe die Stelle, an der ihn das große Hundewesen gebissen hatte. Eduard konnte selbst nichts sehen, aber es schmerzte noch immer höllisch, und er spürte wie das Blut seinen Hals herabrann.
    „Ich musste den richtigen Moment abwarten“, erklärte Arved ruhig und riss kurzerhand ein Stück Stoff von Eduards Ärmel ab, um es um seinen Hals zu binden. Eduard wollte protestieren, aber ließ es dann doch geschehen.
    „Der erste Moment wäre der richtige Moment gewesen!“, ächzte Eduard. „Was gab es denn da abzuwarten?“
    „Eine Armbrust bedient man nicht, ohne zu zielen“, verteidigte sich Arved knapp. „Am Ende wäre der Bolzen sonst in deinem Gesicht gelandet.“
    Eduard konnte das nicht so recht einsehen – das Biest war doch riesig gewesen, das hätte sogar er getroffen, der damals mit ihren selbstgebauten Bögen immer die allerschlechteste Figur gemacht hatte.
    „Was zur Hölle war das für ein Vieh?“, krächzte er. „Seit wann gibt es in Okara solche riesigen Wölfe? Der hätte mich umgebracht, wenn du nicht –“
    „Wenn er gewollt hätte“, fiel ihm Arved ins Wort. „Wenn er gewollt hätte, dann hättest du diesen Biss nicht überlebt.“
    Er reichte Eduard die Hand und half ihm wieder in die Höhe. Zuerst glaubte er, direkt wieder in die Knie gehen zu müssen, aber schaffte es dann doch, auf den Beinen zu bleiben.
    „Soll das heißen, der wollte nur spielen oder was?“
    Arved sagte nichts, wandte sich von ihm ab und machte ein paar Schritte auf den Brunnen zu, wo er sich wohl den Körper der Kreatur noch einmal genauer ansehen wollte – bloß dass dieser Körper gar nicht mehr da war. Nur noch ein paar Flecken dunklen Bluts auf dem Erdboden deuteten darauf hin, dass er vorhin noch dort gelegen hatte.
    „Hoffen wir, dass er genug gespielt hat für heute.“

    Das Haus war erleuchtet.
    Schon von Weitem hatten sie das weiße, helle Licht funkeln gesehen, und je näher sie gekommen waren, desto sicherer waren sie sich geworden, dass dieses Licht wirklich aus dem Haus von Eduards Eltern kam. Dieses Licht bedeutete vor allem eines: Irgendwer war sehr wahrscheinlich noch immer dort.
    An Eduards schmerzendem Hals pochte eine dicke Ader wie verrückt, als sie sich der weit offen stehenden Eingangspforte des Blitzzauns näherten. Dass noch jemand im Haus war, das war natürlich eigentlich eine gute Nachricht, denn wenn sie die Einbrecher auf frischer Tat ertappen konnten, dann würde vielleicht am Ende nichts gestohlen worden sein, und dann würde die ganze Sache womöglich doch noch einigermaßen glimpflich ausgehen. Gleichzeitig war Eduard alles andere als wohl dabei, mitten in der Nacht eine Einbrecherbande zu konfrontieren, deren Mitgliederzahl und generelle Gefährlichkeit ja überhaupt nicht einzuschätzen waren. Und wenn Arved wieder eine halbe Ewigkeit brauchte, um mit seiner Armbrust einen Schuss abzugeben, dann würde vielleicht auch schon ein einziger mäßig begabter Gauner reichen, um ihnen den Garaus zu machen. Ohnehin fühlte er sich nach dem Angriff dieses merkwürdigen Biests so, als könnte er auch ohne Fremdeinwirkung jeden Moment umkippen. Zwar hatten die Schmerzen ein bisschen nachgelassen, und die Wunde schien unter dem provisorischen Verband auch nicht mehr stark zu bluten, aber dafür legte sein Gedankenkarussell jetzt eine Bonusrunde nach der nächsten ein: Sämtliche ihm bekannten Infektionskrankheiten, die so ein wildes Tier durch einen Biss verbreiten könnte, war er jetzt schon mindestens zum vierten Mal durchgegangen, und die wenigsten davon trugen zu seiner Beruhigung bei. Und wenn er sich nicht endlich etwas Wärmeres anzog, dann würde er sich noch genau die schlimme Erkältung einfangen, vor der ihn seine Mutter in ähnlich ungünstig angezogenen Situationen immer gewarnt hatte. Aber bevor er das tun konnte, bevor er sich hinsetzen, etwas trinken und die Augen schließen konnte, versuchen konnte, etwas zur Ruhe zu finden, vorher musste er sich den Unbekannten stellen, die für die ganze Misere überhaupt verantwortlich waren.
    Und hoffen, dass er danach noch am Leben war.
    „Was hast du vor?“, wisperte er Arved zu, als sie durch die Öffnung des Blitzzauns das Grundstück betraten. Kurz kam ihm der Gedanke, dass die Eindringlinge nur auf diesen Moment gewartet hatten, um den Blitzzaun selbst einzuschalten und sie beide bei lebendigem Leibe zu grillen – aber noch bevor er dieses Schreckensszenario in seiner ganzen Entsetzlichkeit erfassen konnte, war der Moment auch schon wieder vorbei und sie waren auf dem Weg zur Haustür.
    „Halt dich im Hintergrund, Ede“, forderte Arved mit gedämpfter Stimme und gezückter Armbrust. „Ich mach das.“
    Mit angehaltenem Atem folgte Eduard seinem Kindheitsfreund zur Tür, die nur angelehnt war. Alle vier Schließmechanismen waren so professionell geknackt worden, dass es aussah, als wäre die Tür nie abgeschlossen gewesen. Mit dem Fuß drückte Arved ganz langsam die Tür ein, bis sie den Blick ins Innere freigab.
    Drei gleißende magische Lichtkugeln schwebten in kreisförmigen Bahnen unter der Wohnzimmerdecke und beleuchteten ein heilloses Chaos aus umgestürzten Stühlen, zersplittertem Glas und zerdepperten Tellern. Die Platte des Esstischs war in der Mitte zerborsten und in der Kommode steckte ein riesiger, schmelzender Eiszapfen. Was aber Eduards Blick auf sich zog, das war die Stelle an der Wand gleich neben dem Zugang zur Küche. An dem herausragenden Nagel hatte seine Mutter früher immer den Kalender aufgehangen, in den sie die Termine eintrug, an denen alle paar Wochen die Marktwagen aus Silden herkamen. Er war sich ziemlich sicher, dass er so einen Kalender am Nachmittag noch dort hängen gesehen hatte – jetzt aber hing an diesem Nagel etwas anderes. Jemand anderes.
    Es war die blutüberströmte Leiche eines halbnackten Mannes mit einer leuchtend blauen Runentätowierung, die sich über einen großen Teil seines kahlen Schädels zog. Durch den hinteren Teil dieses Schädels musste sich der Nagel gebohrt haben, den weit aufgerissenen Augen des Mannes nach zu schließen durchaus zu dessen Überraschung. Der Tote trug nichts außer einer Robe aus grober, grauer Wolle, die halb zerrissen war und den Anblick auf weite Teile seines zertrümmerten Körpers freigab. Eduard war so fassungslos, dass er den Blick erst von der Leiche nehmen konnte, als er aus dem Nebenraum eine Stimme hörte.
    „Ach na sowas, Besuch um diese späte Stunde?“
    Ein bärtiger Mann in brauner Lederjacke kam aus der Küche. Als ihm Arved seine gespannte Armbrust entgegenhielt, hob er die Brauen und deutete mit dem Finger seiner rechten Hand auf ihn, der in einem dicken Handschuh steckte.
    „Hey, nichts überstürzen, Kumpel. Du willst nicht so enden wie der Kollege da, glaub’s mir.“
    Jetzt erst bemerkte Eduard die kleinen Runenzeichen, die in die Fingerspitzen des Handschuhs eingestickt waren. Es waren die Runen, die jeder Stadtwächter höheren Rangs zur Verfügung hatte: Eislanze, Angst, Licht, Heilung – und, am Zeigefinger, die Windfaust. Die gleiche Windfaust, die wohl den tätowierten Glatzkopf an den Nagel gehängt hatte.
    „Godric, Stadtwache Trelis“, stellte sich der Mann mit dem Runenhandschuh vor und fummelte mit der freien Hand eine matt glänzende Bronzemünze aus der Hosentasche, die er ihnen entgegenhielt. Eduard glaubte das Wappen von Trelis darauf wiederzuerkennen, aber für ihn sahen alle Stadtwappen mehr oder weniger gleich aus. „Und wer seid ihr beiden, wenn ich mal ganz freundlich nachfragen darf?“
    „Ich… ich bin Eduard. Ich wohne hier. Also – also, meine Eltern wohnen hier, aber ich… ich soll eine Weile für sie aufs Haus aufpassen und…“
    „Na da hast du ja ganze Arbeit geleistet, Kumpel“, kommentierte Godric grinsend. „Und du da mit der Armbrust? Willst du mir jetzt ein Loch in den Kopf schießen oder stellst du dich erst noch vor, hm?“
    „Arved“, sagte der Angesprochene, nachdem er die Bronzemünze eine Weile intensiv gemustert hatte. Dann senkte er die Armbrust, und Godrics Grinsen wurde noch breiter.
    „Na wer sagt’s denn, ein ganz Höflicher, der Arved. Und deine Eltern wohnen auch hier, oder was genau hast du hier zu suchen?“
    „Er ist mein…“, begann Eduard zögerlich. „Also, wir beide sind zusammen zur Schule gegangen, wir kennen uns schon ewig. Und als jemand eben hier eingebrochen ist und ich ein bisschen Hals über Kopf abgehauen bin, da wollte er zusammen mit mir nachschauen, was denn hier los ist.“
    „Ahh, paar Einbrecher abknallen, ja?“ Godric machte zwei Schritte auf Arved zu und gab ihm einen harschen Klaps auf die Schulter. „Stark, Kumpel, ganz stark. Aber da kommst du’n bisschen spät, das hat der Profi schon erledigt. Sach- und fachgerecht an die Wand genagelt, abholbereit zum Einsargen. Oder Einäschern. Macht mit ihm was ihr wollt, mein Job endet hier.“
    Eduard warf der blutüberströmten Leiche an der Wand einen unsicheren Blick zu.
    „Das ist der Mann, der hier eingebrochen ist?“, vergewisserte er sich. „Es war nur der eine?“
    „Da kannst du verdammt froh sein, dass es nur der eine war“, entgegnete Godric. „Man sieht es diesen Sektentypen nicht an, aber die haben schon richtig was auf dem Kasten. Zähe Bastarde sind das. Diesen hier hab ich drei Wochen gejagt, quer durch halb Myrtana. Fast wär er mir entwischt, aber das wär das erste Mal gewesen. Irgendwann krieg ich sie alle.“
    „Okay, also… er ist Mitglied in einer Sekte?“ Je mehr er hörte, desto mehr drehte sich alles in Eduards Kopf. „Aber… was hat er hier im Haus meiner Eltern gemacht?“
    Godric zog die Schultern hoch.
    „Da fragst du den Falschen, Kumpel. Ich bin nur dafür da, die Penner kaltzumachen. Hey, stört es dich, wenn ich mich am Eis bediene? Das Zeug ist eh am Schnelzen wie die Sau, das muss jetzt so schnell wie möglich weg. Danke, Mann, großen Dank, bist’n Guter!“
    Eduard zuckte unwillkürlich zusammen, als Godric im Weggehen noch kurz mit dem Windfaustzeigefinger auf ihn deutete. Als er auf dem Weg zum Gefrierraum wieder in der Küche verschwunden war, wollte Eduard einen vielsagenden Blick mit Arved wechseln, aber der starrte stattdessen die Leiche mit ihren blau leuchtenden Tätowierungen an.
    „Arved!“, flüsterte er ihm zu. „Mit dem Typen stimmt doch was nicht, oder? Ich meine… wo kommt der auf einmal so plötzlich her? Wir sind hier mitten im Nirgendwo, und da taucht auf einmal ein Stadtwächter auf? Und dann auch noch aus Trelis? Was will denn ein Stadtwächter aus Trelis hier?“
    „Du hast ihn doch gehört, er hat diesen Mann seit Wochen verfolgt“, murmelte Arved abwesend.
    „Ja, aber…“
    „Frag dich lieber, was dieser Mann in eurem Haus gemacht hat. Er war sicher nicht ohne Grund hier.“
    „Der Keller“, erinnerte sich Eduard. „Die Manazufuhr ist ausgefallen, also… er muss wohl irgendwas im Keller gemacht haben.“
    Arved war schon auf dem Weg zur Kellertür, und Eduard eilte ihm nach. Eine der magischen Lichtkugeln, die Godric wohl mit seinem Handschuh beschworen hatte, folgte ihnen die Treppe hinab und beleuchtete die steilen Stufen, die Eduard als Kind immer unheimlich gewesen waren und ihre Wirkung auf ihn noch nicht ganz verloren hatten.
    Eduard stolperte fast in Arved hinein, als der auf der untersten Stufe abrupt stehen blieb. Als die Lichtkugel in den Kellerraum flog und unter der steinernen Decke schweben blieb, da erkannte Eduard den Grund dafür: Am Boden des Raums klaffte, gesäumt von herausgebrochenen Steinen und schwarzer Erde, ein großes, beinahe kreisrundes Loch, das so tief zu reichen schien, dass der Boden auf Anhieb nicht zu erkennen war. Der Manatank war aufgebrochen, die Reste der drei Fässer mit dem Nachfüllmana lagen zerschlagen im Raum verteilt. Reste der blau leuchtenden Flüssigkeit waren noch hier und da am Boden zu erkennen, und ein kleines Rinnsal tropfte hinab in das Loch, dessen Wände vor Mana nur so trieften.
    „Was ist das für eine Scheiße?“
    Eduard erschrak, als er hinter sich die Stimme des Stadtwächters vernahm. Mit einer Schüssel voller halbflüssigem Blaufliedereis in der Hand quetschte sich Godric zwischen ihnen hindurch zum Rand des Lochs.
    „Hey, mach das Maul auf, wenn ich mit dir spreche!“, raunzte er Eduard an. „Warum ist da ein Scheißloch in deinem Keller?“
    „K… keine Ahnung!“, stotterte Eduard, der sich endgültig völlig überfordert von der Situation fühlte. „Das war da sonst nicht! Das muss der Einbrecher da gegraben haben!“
    Godric starrte ihn ein paar Sekunden lang an, dann knallte er die Eisschale an die Wand. Feines Gelderner Porzellan zersplitterte, und Eduard spürte, wie ein paar Spritzer Eis an seiner linken Wange landeten.
    „Scheiße!“, brüllte Godric. „Dieses Arschloch! Dieses Scheißarschloch!“
    „Er… hat unser ganzes Mana in das Loch gekippt, oder?“, wagte Eduard mit bebender Stimme nachzufragen. „Aber warum? W… was ist das überhaupt für eine Sekte?“
    Arved zupfte ihn am abgerissenen Ärmel und deutete in das Loch hinab.
    „Siehst du das, Ede? Da ganz unten?“
    Vor Eduards Augen hatte längst alles zu flimmern begonnen, magisches Licht hatte seiner Sehkraft noch nie besonders gut getan. Aber dann glaubte er zu verstehen, was Arved meinte: Ganz unten jenseits der Finsternis, zwischen dem bläulich glühenden Mana, da leuchtete noch etwas anderes in einem schwachen Grün. Ein Symbol aus verschnörkelten Linien.
    „Ede, was ist das für eine Rune unter eurem Haus?“
    „Ich... habe keine Ahnung. Ich weiß von keiner Rune!“
    „Dieser verfluchte Bastard.“ Godrics Stirn hatte zu schwitzen begonnen, und das selbstsichere Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. „Ich bin zu spät gekommen. Ich dachte, ich hätte ihn erwischt, aber… scheiße!
    „Godric“, wandte sich Eduard noch einmal so ruhig er es irgendwie hinbekam an den Stadtwächter. „Was ist das für eine Sekte? Was ist das für eine Ru–“
    Die letzte Silbe erstickte in einem erschrockenen Japsen, als Godric mit zwei Fingern des Runenhandschuhs auf ihn deutete.
    „Keinen Schritt näher!“, blaffte er ihn an. „Keinen Schritt!“
    Rückwärts ging er die Treppe wieder nach oben, während er die Finger weiterhin in ihre Richtung gerichtet hielt. Dann, als er fast oben angelangt war, drehte er sich abrupt um, riss die Kellertür auf und rannte so überhastet los, als ob Beliar selbst hinter ihm hergewesen wäre. Die leuchtende Kugel folgte ihm, und ein paar Augenblicke später wurde der Keller nur noch vom Blau der Manareste erleuchtet.
    „Arved, was…?“
    „Wieso fragst du mich?“, fiel ihm Arved ins Wort, und zum ersten Mal hatte Eduard das Gefühl, dass sein alter Schulfreund von der Situation genauso überfordert war wie er selbst. „Du bist der Experte für Runen, oder nicht? Das ist dein Haus hier! Sag du mir, was das für eine Rune ist und was sie macht!“
    „Ich… ich bin nicht unbedingt ein Experte für Runen“, verteidigte sich Eduard. „Ich studiere Magitronik, das heißt aber nicht…“
    „Du hast keine Ahnung?“ Es klang vorwurfsvoll, aber auch ein bisschen flehend. „Wirklich nicht?“
    Eduard schüttelte nur den Kopf. Das grüne Zeichen, das da irgendwo weit unten am Boden dieser Grube leuchtete, das war kein Runensymbol, das er jemals zuvor gesehen hatte. Fest stand nur, dass es wohl nichts Gutes zu bedeuten hatte, wenn Godrics Reaktion ein Anhaltspunkt war. Und einen anderen Anhaltspunkt hatten sie nicht.
    „Arved… dieser riesige Wolf vorhin, der mich angegriffen hat… du hast so etwas hier auch noch nie gesehen, oder?“
    „Nein.“
    „Kann es wirklich Zufall sein, dass… dass so etwas hier auftaucht, kurz nachdem diese Rune…?“
    „Wieso fragst du mich das?“, fuhr ihn Arved an. „Ich hatte nie eine Ahnung von Runen! Wenn du mich fragst, dann kann diese Rune alles bedeuten!“
    „Okay, ich… ich glaube nur…“ Eduard holte tief Luft. „Ich glaube, wir sollten hier weg. Weg aus Okara. Und zwar dringend.“
    Zum ersten Mal, seitdem sie die Blutfliegenfarm verlassen hatten, blickte ihm Arved direkt in die Augen.
    „Das kannst du vergessen. Ich gehe hier nicht weg.“
    Eduard wusste sofort, dass es keinen Zweck hatte, ihm zu widersprechen, und ihm selbst behagte die Aussicht darauf, sich in die Wälder zu schlagen, auch ganz und gar nicht – zumal eine überstürzte Flucht in die Wildnis sicher nicht das war, was sich sein Vater darunter vorstellte, die Stellung zu halten. Aber alles in ihm sagte ihm, dass jede Sekunde, die sie im Wirkungsbereich dieses unbekannten Zaubers verbrachten, eine Sekunde zu viel war. Und vielleicht die letzte Sekunde sein konnte.
    „Wenn du uns nicht helfen kannst“, begann Arved zögerlich und blickte zu Boden. „Dann müssen wir jemand anderen um Hilfe bitten.“
    Eduard glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben.
    „Aber… es ist niemand mehr hier, oder? Es wohnt niemand mehr in Okara außer dir.“
    Arved seufzte, als er sich daran machte, die Treppe nach oben zu steigen.
    „Das ist nicht ganz richtig.“

    Das einzige dreistöckige Haus von Okara hatte früher einmal einem alten Händler gehört, der im Erdgeschoss seinen Krimskramsladen betrieben hatte. Eduard wusste noch, dass er als kleines Kind gerne mit seiner Mutter hierher gekommen war, weil am Ende des Einkaufs nicht selten auch etwas für ihn dabei herausgekommen war – ein Spielzeug, oder irgendeine wertlose, aber für ihn faszinierende Kleinigkeit aus fernen Teilen von Myrtana oder manchmal sogar aus Varant. Aber der Händler war irgendwann gestorben, und in Eduards Erinnerung hatte das Haus danach immer leer gestanden. Er hatte sich manchmal gefragt, wieso ein allein lebender Mann ein Haus mit drei Stockwerken benötigt hatte, und sich vorgestellt, welche Schätze aus aller Welt er auf den oberen Etagen wohl gelagert hatte. Schätze, die vielleicht noch immer dort waren und auf einen neuen Besitzer warteten. Aber einen neuen Besitzer hatte es nie gegeben, zumindest nicht nach allem, was Eduard bisher darüber zu wissen geglaubt hatte. Arved schien ihm da offenbar etwas voraus zu haben.
    „Also, sie ist so eine Art… Schamanin oder wie?“, erkundigte sich Eduard noch einmal, als sie sich der großen Doppeltür näherten, an der früher immer das Schildchen mit den Öffnungszeiten des Ladens gehangen hatte. Von außen sah das Haus keinen Deut bewohnter aus als all die anderen hölzernen Ruinen in seiner Nachbarschaft.
    „Ich glaube nicht, dass sie so genannt werden möchte“, sagte Arved. „Aber sie kennt sich aus mit Magie. Wenn uns jemand helfen kann, dann ist sie das.“
    Nervös blickte Eduard über die Schulter, aber hinter ihm war nur Dunkelheit. Er rechnete jeden Moment damit, dass die Wolfskreatur wieder auftauchte – und diesmal vielleicht nicht spielen, sondern sich für die zwei Bolzen rächen wollte. Aber es war wieder alles still, und nichts regte sich außer dem unguten Gefühl in seiner Magengegend. Er hatte den deutlichen Eindruck, dass ihm Arved nicht alles sagte.
    „Hör mal, Ede…“ Arved hatte die Stimme noch ein bisschen mehr gesenkt als vorhin. „Es ist vielleicht besser, wenn du erstmal alleine zu ihr gehst. „Alva ist… nicht ganz so gut auf mich zu sprechen.“
    Eduard runzelte die Stirn. „Das heißt, du kennst sie gut? Ich habe noch nie von ihr gehört.“
    „Das ist ihr auch sehr recht so“, murmelte Arved. „Ja, ich kenne sie gut. Und deswegen glaube ich, dass es besser ist, wenn ich nicht dabei bin, wenn du sie um Hilfe fragst.“
    Eduard spürte, wie sich sein Hals langsam zuschnürte, und wie die Wunde wieder deutlich unangenehmer zu pochen begann. Es war ihm sowieso alles andere als geheuer, in dieses scheinbar verlassene alte Haus einzudringen, das offenbar das geheime Reich einer Schamanin oder wie auch immer sie sich nannte war – noch mehr Angst aber machte ihm die Vorstellung, das ganz allein zu tun. Erst jetzt begriff er, wieviel Sicherheit ihm Arved dann doch gegeben hatte.
    „Ich… weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist…“
    „Vertrau mir“, verlangte Arved und machte ein paar Schritte zur Seite, bevor er seine Öllampe löschte. „Es ist besser so.“
    „Aber… was soll ich denn sagen, woher ich überhaupt von ihr weiß? Und…“
    „Ede, bitte. Das ist unsere einzige Chance, den Zauber zu bannen.“
    Auf einmal war er allein in der Dunkelheit. Die riesigen, nur vom schwachen Mondlicht erhellten Türen, die als Kind immer so verheißungsvoll gewesen waren, kamen ihm jetzt auf einmal wie die unheilschwangeren Pforten zur Unterwelt vor. Eduard versuchte all seinen Mut zusammenzunehmen und hob die Hand, um anzuklopfen – als sich die Türen plötzlich rumpelnd von selbst öffneten.
    Jenseits der Türen erstreckte sich ein von warmem Licht erhelltes Wirrwarr aus Ranken, Dornen und Wurzeln. Der große Raum im Erdgeschoss, in dem früher dutzende Regale und Kisten gestanden hatten, war jetzt mit einer Unmenge an Tontöpfen vollgestellt, in denen die unterschiedlichsten Pflanzen wuchsen – einige klein und unscheinbar, andere so groß, dass sie ihre tönernen Gefängnisse längst gesprengt und mit ihrem Wurzelwerk die alten Holzplanken am Boden durchstoßen hatten. Ein Hitzeschwall kam ihm entgegen, die Luft war dicht und schwül, und er glaubte sogar Insekten brummen zu hören. Inmitten der Pflanzen saß eine junge Frau in einfachen, braunen Arbeiterklamotten auf einem braunen Schemel, und blickte ihn aus wässrigen Augen an. Ihre Haut war so bleich wie ihre langen Haare, die so wirkten, als wären sie im Leben noch nie gekämmt worden, und schon beim ersten Anblick hatte Eduard das Gefühl, gleich wieder wegschauen zu müssen, so als würde ein unsichtbarer Käfig seine Blicke aussperren wollen.
    „Eduard.“ Sie sprach den Name mit einer Selbstverständlichkeit aus, als ob er ihr schon seit Langem bekannt wäre. „Sag meinem Bruder, er soll selbst kommen, wenn er etwas von mir will.“
    Irritiert drehte sich Eduard zu Arved um, der aus der Dunkelheit in den Lichtschein trat.
    Er hatte nicht geglaubt, dass ihn an diesem Abend noch etwas überraschen konnte, aber jetzt wurde ihm schon wieder der Boden unter den Füßen weggezogen. Arved und er, sie hatten so viele Jahre lang alles geteilt – ihren Alltag, ihre Zeit, jeden noch so geheimen Gedanken. Es war völlig undenkbar, dass er die ganze Zeit über eine Schwester gehabt hatte, von der er noch nie etwas gehört hatte.
    „Wieso hat er dich hergebracht?“ Alva war aufgestanden. „Gegen meinen Wunsch?“
    „Ich wäre nicht mit ihm hergekommen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre“, versicherte ihr Arved. „Wir brauchen deine Hilfe.“
    Mit angehaltenem Atem beobachtete Eduard, wie Alva mit bedächtigen, fast schwebenden Schritten zu ihm ging, bis sie ihm direkt gegenüberstand. Sie hatte ein etwas eingefallenes Gesicht, aber Eduard konnte nicht anders, als sie sehr hübsch zu finden – und gleichzeitig schaffte er es nicht, ihr länger als einen winzigen Moment in die Augen zu sehen. Da war etwas an ihr, das es unmöglich machte, sie lange anzuschauen, fast so, als sträubte sich sein Körper gegen den Anblick.
    „Du hast kein Recht hier zu sein“, sagte Alva. „Du trägst große Finsternis in dir.“
    „Was redest du das?“ Jetzt war Arved die Nervosität deutlich anzuhören. „Das ist Eduard, mein Schulfreund Eduard! Alva, bitte, es ist –“
    „Geht, und kommt nicht zurück.“
    „Hör zu, Alva – ich – ich glaube, eine der alten Runen wurde aktiviert!“, schoss es aus Arved heraus. Wir sind einem Warg begegnet – ich bin mir fast sicher, er sah so aus wie in den Büchern –“
    „Geht!“
    Ihre Stimme war nicht lauter geworden, aber sie fügte Eduard fast körperliche Schmerzen zu.
    „Alva, hörst du mir überhaupt zu? Ein Warg wie in den alten Geschichten! Was wenn –“
    Alvas Arme hoben sich, und eine immense Druckwelle riss Eduard von den Füßen, schleuderte ihn hinaus auf den Weg. Stöhnend kam Arved neben ihm auf, dicht gefolgt vom lauten Donnern der sich schließenden Türen.
    Mühsam kämpfte sich Eduard wieder auf die Beine.
    „Arved… ich glaube, du hast mir so einiges zu erklären.“

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Dreizehn blaue Lichtflecken krochen die Wände entlang. Lebendiges Mana, das die kleine Höhle in ein grelles Leuchten tauchte. Arved wusste, dass es genau dreizehn waren, weil er sie gezählt hatte. Er hatte ein paar Minuten dafür gebraucht, bis er sich ganz sicher gewesen war, und jetzt schmerzten seine Augen, weil er zu lange ins Licht geblickt hatte. Aber es war besser gewesen, als Ava und Alia anzuschauen.
    Der Magier in der braunen Kutte hatte sie zu den beiden steinernen Podesten in der Mitte des Raumes geführt, Ava zur linken und Alia zur rechten. Arved spürte plötzlich den Drang, sie beide noch einmal zu umarmen, aber ehe er ihm nachgehen konnte, da fühlte er schon den festen Griff seines Vaters um sein Handgelenk.
    „Es ist alles bereit“, sagte der Magier mit seiner warmen Stimme, und für einen Moment fühlte sich Arved von dieser Stimme beruhigt. Aber das Gefühl hielt nur so lang, bis ihn Alias Blick traf. Er konnte ihm nur ganz kurz standhalten, dann sah er zu Boden.
    Ava stand bereits auf ihrem Podest, und einen Augenblick später tat es ihr Alia gleich. Der Griff seines Vaters wurde immer fester. Arved konnte seine Anspannung spüren. Vielleicht gab es noch die Möglichkeit, alles abzubrechen.
    Es war der letzte Gedanke, bevor der Magier die Hände faltete und die beiden Podeste zu glühen begannen, heller noch als die Manaflecken an den Wänden.
    Arved kniff die Augen zusammen, sah die Silhouetten seiner Schwestern im grellen Weiß verglühen. Und wusste, dass von jetzt an alles anders war.


    Winzige Funken glimmten in der Dunkelheit auf, als Stein auf Stein traf. Einmal, zweimal, jedes Mal erstarben sie sofort. Bis sie schließlich am Leben blieben und die Öllampe erneut zum Leuchten brachten.
    „Arved, mach endlich den Mund auf!“, forderte Eduard nicht zum ersten Mal. „Wieso hat sie dich ihren Bruder genannt? Und was sind das für alte Runen, von denen du geredet hast?“
    Es überraschte ihn nicht, dass Arved wieder tat, als hätte er nichts gehört, aber das linderte Eduards hilflose Wut kein Stück. Alles war schon verwirrend und beängstigend genug, ohne dass ihm der einzige Verbündete, den er gerade hatte, wichtige Geheimnisse vorenthielt.
    „Okay, wenn du nicht mit mir reden willst, dann gehe ich eben. Alles ist besser als hierzubleiben, und wenn du nicht ehrlich zu mir bist, wieso sollte ich dann noch länger auf dich hören? Ich… ich bin weg. Ich verschwinde.“
    Diesmal hatte er schon eher mit einer Reaktion gerechnet, wenigstens mit einem spöttischen „Wohin denn?“ vielleicht. Stattdessen stellte Arved die Lampe auf dem Boden ab und kramte aus einer Jackentasche ein kleines Fläschchen hervor. Eduard glaubte die milchige Flüssigkeit darin wiederzuerkennen: Es musste sich um das Produkt der Blutfliegenfarm handeln. Das Sekret.
    Arved öffnete die kleine Flasche, kippte die Flüssigkeit über ein Bündel seiner Bolzen und spannte dann einen von ihnen in seine Armbrust ein. Ehe Eduard spekulieren konnte, was er damit bezweckte, hatte Arved die Armbrust auch schon in die Nähe der Lampenflamme bewegt, bis das Feuer die Spitze des Bolzens erreichte. Das hölzerne Geschoss flammte auf, Arved riss die Armbrust empor, zielte auf die Doppeltür des alten Hauses und betätigte den Mechanismus der Waffe. Der brennende Bolzen jagte durch die Luft, verwandelte sich im Bruchteil eines Augenblicks in einen gewaltigen Feuerball und ließ die großen Türen bersten. Reflexartig hielt sich Eduard beide Arme vor das Gesicht, als eine Welle aus Hitze und Holzsplittern über ihn hinwegfegte. Als er die Hände wieder von den Augen nahm, war Arved bereits mit erhobener Armbrust ins Haus gegangen. Ein Klacken erklang, ein Sirren und dann – ein Schrei.
    Einen Moment lang stand Eduard wie erstarrt da, bevor er an den brennenden Trümmern der Tür vorbei ins Innere stieg und sah, was Arved angerichtet hatte.
    Alva lag auf dem Rücken inmitten der Pflanzen. Ihre Hände umklammerten den vor Sekret und Blut triefenden Bolzen in ihrem Bauch.
    „Du lässt mir keine Wahl, Alva“, sagte Arved, durchschritt den Raum und blickte zu der röchelnden Schamanin hinab. „Los, pack mit an. Wir müssen sie hier rausschaffen.“
    Eduard brauchte einen Moment, bis er begriff, dass die Anweisung an ihn gegangen war.
    „W– was?“
    „Das Sekret wird nicht lange wirken. Wir müssen sie von ihren Pflanzen wegschaffen, sonst haben wir keine Chance gegen sie.“
    „Aber…“
    Arved seufzte, spannte einen weiteren Bolzen in die Armbrust und richtete die Waffe auf Eduard.
    „Ede, du hilfst mir jetzt besser. Okay?“
    „O… okay.“
    Vorsichtig setzte er sich in Bewegung, bis er Alva erreicht hatte. Er konnte sie immer noch nicht richtig anschauen, ihr gekrümmter Körper verschwamm vor seinen Augen. Ihre Arme waren ganz glitschig, als er sie anpackte, ein bisschen wie ein Fisch. Sie wollte ihm immer wieder wegflutschen, aber gemeinsam schafften sie es, Alva nach draußen zu bekommen.
    Das Feuer, das von den brennenden Trümmern der Tür ausging, züngelte inzwischen die Außenwände des großen Hauses hoch, und Eduard hatte große Probleme, noch freie Stellen zu finden, an denen er auf dem Weg nach draußen mit den Füßen Platz fand. Die Hitze trieb ihm den Schweiß auf die Stirn, und in seinem Kopf rasten die Gedanken. Was tat er hier eigentlich gerade? Wer auch immer diese Frau wirklich war, Arved hatte gerade ihr Haus angezündet, ihr in den Bauch geschossen und war mitten dabei, sie irgendwo hin zu entführen – und er half ihm auch noch dabei. Der Impuls, einfach loszulassen und wegzurennen, war so stark, dass er ihm beinahe nachgab, aber da war immer noch die Armbrust, die sich Arved zwischen die Arme geklemmt hatte. Niemals würde er schnell genug rennen können, um einem gut gezielten Schuss zu entgehen. Und dass Arved gut zielen konnte, davon war er inzwischen überzeugt. Wohin sollte er überhaupt fliehen? In die Wälder? Zu diesem Stadtwächter Godric? Wahrscheinlich war der ja längst selbst über alle Berge.
    Er war auf sich allein gestellt, begriff Eduard. Allein mit einem Verrückten und einer Sterbenden. Er spürte, wie ihn die Situation völlig zu übermannen drohte, wie er glaubte, die Besinnung zu verlieren, als Arved plötzlich stehen blieb und zischte: „Warte!“
    Eduards Hände waren so schwitzig, dass ihm Alvas dünne Arme wieder aus den Fingern zu gleiten drohten. Die Verletzte rührte sich kaum noch, und anders als vorhin hörte er sie gar nicht mehr atmen. Als er sie ansehen wollte, da krümmte sich in seinem Kopf wieder alles zusammen, und er musste wegschauen. Unmöglich zu sagen, ob da noch eine Regung in ihrem in der Luft flirrenden Gesicht gewesen war. Er versuchte ihren Puls zu erfühlen, aber alles was er fühlte, war sein eigener Herzschlag, für den sein Körper zu eng geworden zu sein schien. War sie möglicherweise schon…?
    „Leise!“, raunzte ihn Arved an. Eduard hatte gar nicht gemerkt, wie heftig er geatmet haben musste.
    „Siehst du das?“ Arved machte mit dem Kinn eine Geste in Richtung der gegenüberliegenden Häuser. In einem von denen hatte früher Rebecca gewohnt, und Eduard hatte sich oft gefragt, wie es wohl von innen aussah. Jetzt lebten Rebeccas Eltern in Geldern, und Rebecca selbst…
    Plötzlich sah es Eduard auch. In einem der überwucherten Vorgärten regte sich etwas. Ein Schatten, groß wie ein Fels, aber mit ausgefransten Rändern. Schon bemerkte er einen weiteren im angrenzenden Garten. Und in Rebeccas Garten – gleich zwei. Nein, drei. Das waren keine Felsen. Felsen bewegten sich nicht.
    Eduard erschrak, als Arved ganz unvermittelt losließ und Alvas Füße auf dem Boden aufkamen.
    Arved lud seine Armbrust nach und zielte auf die großen Gestalten, die jetzt über zugewachsene Gartenmauern und halb verfallene Zäune kletterten. Sie waren auf dem Weg zu ihnen, begriff Eduard und ließ Alva vollständig zu Boden sinken, so vorsichtig er es in der Anspannung hinbekam. Hinter ihnen begann das Feuer immer heftiger zu lodern, es knackte und zischte, kleine Funken flogen durch die Luft. Als der erste der Schatten in den Schein der Flammen geriet, da konnte Eduard erkennen, dass die Kreatur eine grob menschliche Statur hatte, aber größer, breiter war – und über und über mit einem zotteligen, verfilzten Fell überzogen. Auch das Gesicht war übersät mit grauen Haaren. Dazwischen zwei rot glühende Augen und ein breites Maul mit bleichen Lippen, zwischen denen zwei gelbliche Hauer hervorragten. Eduard war ganz verwirrt von diesem Anblick, und erst als er die gezackte Klinge aus rostigem Metall in der Hand der Kreatur bemerkte, da wusste er plötzlich, woran er sich erinnert fühlte.
    Mindestens einmal im Jahr hatten sie einen Schulausflug in das Sildener Museum gemacht. Arved hatte sich immer am meisten für die Vitrine mit den alten Waffen aus der Zeit der Orkkriege interessiert. Und am längsten hatte er die unförmigen Waffen angestarrt, die den Orks selbst gehört hatten. Eduard hatte sie immer unheimlich gefunden, aber er hatte ja wenigstens die Gewissheit gehabt, dass Orks nicht mehr existierten, nicht im Hier und Jetzt existierten, dass sie ausgerottet waren und für niemanden mehr eine Gefahr darstellen konnten. Sie waren bloß eine schlimme Erinnerung aus der fernen Vergangenheit Myrtanas – ein Problem, das Menschen für ihn gelöst hatten, die schon seit Jahrhunderten tot waren.
    Diese Gewissheit war jetzt fort. Immer mehr haarige, leere Fratzen wurden im Licht des Feuers enthüllt. Immer mehr graue, teils fleckige Körper. Sie kamen von allen Seiten, und jeder von ihnen reckte ihnen eine grobschlächtige Axt, ein schartiges Schwert oder eine andere ungetüme Waffe entgegen.
    Hilfesuchend sah Eduard zu Arved, der mit der Armbrust erst auf den einen, dann auf den anderen heranwankenden Ork zielte. Er wusste genauso gut wie Eduard, dass er sie niemals alle erwischen konnte. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal genug Bolzen für jeden von ihnen dabei.
    „Arved! Was – was machen wir jetzt?“
    „Eine der alten Runen!“, brüllte Arved plötzlich, und Eduard verstand erst im zweiten Moment, dass er nicht ihn damit angesprochen hatte. „Alva, das ist eine der alten Runen! Hör auf mit deinen Spielchen und hol uns hier raus, verdammt nochmal!“
    Eduard wagte einen raschen Blick auf Alvas reglosen Körper. Er konnte ihn gerade lange genug aufrecht erhalten, um den großen roten Fleck zu bemerken, der sich rund um den Bolzen auf ihrer braunen Stoffkleidung abzeichnete. Auf dem Boden hatte sich schon eine dunkle Pfütze gebildet.
    „Sie ist tot, Arved!“, rief ihm Eduard zu und sah sich hektisch nach einem Fluchtweg um. „Wir müssen hier weg!“
    Aber so angestrengt er auch in alle Richtungen starrte, er sah keinen Ausweg. Hinter ihnen das flammende Inferno, in das sich das alte Händlerhaus von Minute zu Minute verwandelte – und zu allen anderen Seiten die haarigen Kreaturen, von denen ihnen die ersten beiden schon ganz nah waren. Einer der Orks starrte Eduard direkt in die Augen, und im roten Licht dieser Augen fühlte er auf einmal ganz deutlich den Atem des Wargs in seiner Nase. Übelkeit stieg in ihm auf, als sich das Blauflieder-Waldbeeren-Eis seiner Mutter wieder einen Weg in seine Mundhöhle bahnen wollte.
    „Eine der alten Runen wurde aktiviert!“ Brüllend rüttelte Arved an den Schultern der Frau, die er vor ein paar Minuten erst niedergeschossen hatte. „Die Orks, sie erwachen, sie sind hier! Das ist kein Witz, Alva – wenn du uns nicht sofort hier rausbringst –“
    „Arved, vergiss es!“, flehte Eduard. „Lass sie los – wir müssen –“
    Plötzlich war der Ork direkt neben ihm. Eine filzige Pranke packte ihn am Hals, drückte die Finger durch den notdürftigen Verband tief in die Wunde. Eine Welle heißen Schmerzes raste durch Eduards Körper, als der graue Ork seine Waffe hob – eine gewaltige Axt, deren abgewetztes Metall im roten Schein des Feuers glühte. Nur kurz leistete Eduard Widerstand, versuchte in einem hilflosen Zucken und Rütteln, sich aus dem unerbittlichen Griff des Monstrums zu befreien – dann raste die Axt auf ihn hernieder.
    Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung am Boden. Eine dünne, bleiche Hand, die sich hob – und dann eine Welle warmen Lichts, das ihn erfasste.

    Die Stille war so vollkommen, dass Eduard nicht gleich begriff, dass er in ihr noch atmen durfte. Erst als ihm die Luft wegblieb, da nahm er einen tiefen, rasselnden Atemzug, und dann gleich noch einen. Und erst beim dritten Mal, als die kalte, feuchte Luft durch seinen Hals in seine Lunge fuhr, erst da begann er zu verstehen, dass er am Leben war.
    Er lag auf dem erdigen Boden einer Höhle, sein Kopf lehnte an der Wand. Neben sich hörte er den hastigen Atem Arveds. In der Luft tanzten tausend magische Funken, die den kleinen Hohlraum in ein beruhigendes Orange tauchten. Und in der Mitte dieser Funken, da stand Alva, flirrend und mit den Augen nicht zu begreifen. Ihre Finger umklammerten den Bolzen, von dem noch immer etwas Blutfliegensekret tröpfelte. Mit einem Knacken brach der Bolzen entzwei, bevor sie beide Hälften zu Boden fallen ließ.
    „Danke“, seufzte Arved erleichtert. „Für einen Moment dachte ich wirklich, du bist stur genug, uns alle sterben zu lassen.“
    Alva antwortete nicht, sondern wandte sich Eduard zu und bedachte ihn mit einem Blick, der seine Kopfschmerzen augenblicklich verzehnfachte.
    „Vielleicht wäre es klüger gewesen, dich sterben zu lassen“, sagte sie. „Die Saat der Finsternis in dir hat bereits zu keimen begonnen. Du solltest nicht leben.“
    „W– warte mal!“, entgegnete Eduard hastig und richtete sich auf. „Ich bin das nicht, der dir eben in den Bauch geschossen und dein Haus abgefackelt hat! Ich – ich will doch einfach nur –“
    „Es spielt keine Rolle, was du willst“, behauptete Alva. „Wichtig ist nur, was du bist. Und was du sein wirst.“
    „Was soll das denn jetzt schon wieder heißen?“, stöhnte Eduard. „Wo sind wir hier überhaupt? Und – was waren das für… das waren doch keine echten Orks, oder?“
    „Leider waren sie das“, sagte Arved. Eduard war ganz verblüfft, dass er sich dazu herabgelassen hatte, auf eine Frage von ihm zu antworten, aber so richtig viel erklärte diese Antwort noch nicht.
    „Alva, unter Eduards Haus befindet sich eine der alten Runen. Und sie wurde aktiviert. All die Wiedergänger aus den alten Zeiten… der Warg, die Orks… es kann kein Zweifel bestehen.“
    „Stimmt das?“, wandte sich Alva wieder an Eduard, der diesmal lieber gar nicht erst versuchte, den Blick zu erwidern. „Eine alte Rune unter deinem Haus? Seit wann weißt du davon?“
    „Ich – ich weiß überhaupt nichts!“, stellte Eduard verzweifelt klar. „Das ist nicht mein Haus, sondern das meiner Eltern. Und ja, irgendein verrückter Kultist hat da im Keller ein Loch gegraben und eine Rune freigelegt. Aber was weiß ich, wo die herkommt und – und was überhaupt diese alten Runen sein sollen! Mir erklärt hier ja niemand irgendwas!“
    „Dieses Wissen ist nicht für dich bestimmt“, urteilte Alva in sanftem, aber sehr bestimmtem Tonfall. „Erst recht nicht jetzt, da in dir die Finsternis erwacht.“
    „Du bist dir ganz sicher?“, fragte Arved seine Schwester und warf dabei einen zweifelnden Blick auf den halb zerfetzten Verband um Eduards Wunde am Hals. „Der untote Warg, dem wir begegnet sind… er hat ihn gebissen, ja. Aber meinst du wirklich, dass das ausgereicht hat, um…?“
    „Das hat es“, sagte Alva. „Die Finsternis wird ihn verschlingen, es ist unausweichlich.“
    Mit einem mehr als mulmigen Gefühl betastete Eduard den feuchten Stoff über der Bisswunde. Das dunkle Pochen in seinem Hals war jetzt auf einmal wieder ganz deutlich spürbar.
    „Soll das heißen, ich… ich werde jetzt auch zu so einem… einem Warg, oder wie? Oder zu einem Untoten?“
    Es klang so absurd, dass Eduard fast lachen musste, als er es aussprach. Er musste an die zweite Staffel von Zombiekönig Rhobar denken, als General Lees engster Vertrauter Bullco schon in der eröffnenden Doppelfolge von einem unheiligen Paladin gebissen worden war und die Wunde die ganze Staffel hindurch verborgen gehalten hatte, bis er sich ausgerechnet während der Feierlichkeiten von Lees Hochzeit mit Elena in einen blutrünstigen Zombie verwandelt und die Braut um einen Kopf und einen Ringfinger kürzer gemacht hatte. Ganz so dramatisch würde es wohl bei ihm selbst nicht ausgehen können, denn die Gelegenheit, irgendetwas zu verheimlichen, die hatte er ja gar nicht erst gehabt.
    „Das glaube ich kaum“, sagte Arved und ließ Eduards Zombiealbträume zerplatzen. „Dazu müsstest du wohl erst einmal sterben.“
    „Okay, aber…?“
    „Kein Wort mehr!“, forderte Alva, bevor ihr Bruder noch etwas hinzufügen konnte. „Du hast ihm schon zu viel gesagt. Ich habe ihn nur hierher gebracht, damit er nicht den Orks in die Hände fällt – und weil er uns hoffentlich noch nützlich werden kann. Aber wir müssen uns beeilen, bevor die Finsternis gänzlich Besitz von ihm ergreift.“
    „Also hast du einen Plan?“, vergewisserte sich Arved. „Du weißt, wie du die Rune deaktivieren kannst?“
    „Ich kann die Rune nicht deaktivieren“, entgegnete Alva so sachlich, als ob sie gar nicht begriffen hätte, dass sie alle Hoffnungen auf ein baldiges Ende dieses ganzen Wahnsinns damit gerade zerschlagen hatte.
    „Keine Kraft, ob irdisch oder göttlich, kann eine der alten Runen brechen. Wenn die Rune erst einmal mit Mana in Kontakt gekommen ist, dann wird sie niemals aufhören, ihre Macht zu wirken. Es gibt keine Möglichkeit, sie auszuschalten, zu beseitigen, oder in einer anderen Art aus der Welt zu schaffen. Außer die eine… die Quelle ihrer Macht zu vernichten. Jemand muss ins Herz der Finsternis vordringen und es zerschlagen. Du musst es tun.“
    Ihr eindringlicher Blick ließ Eduard erschaudern. Wild schwirrten die unsteten Umrisse ihres Gesichts vor seinen Augen. Es war wie eine wunderschöne, von Meisterhand gefertigte Zeichnung, die zu lange im Regen gelegen hatte.
    „Ich? Aber… aber ich dachte, ich trage die Finsternis in mir… oder wie war das?“
    „Und deshalb wird die Finsternis dich empfangen“, eröffnete ihm die Schamanin. „Du solltest dankbar sein für diese Aufgabe, denn sie ist der einzige Grund dafür, dass du noch am Leben bist.“
    „Alva, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist“, wandte Arved ein. „Ich kenne Eduard, er ist schwach. Er ist so einer Aufgabe nicht gewachsen.“
    Obwohl Eduard tausend andere Gedanken im Kopf hatte, konnte er nicht anders, als sich ein bisschen verletzt zu fühlen. Gleichzeitig wusste er, dass Arved recht hatte – er war kein Kämpfer, kein Magier, eigentlich überhaupt niemand. Schon gar nicht jemand, der in irgendein Herz der Finsternis vordrang. Er hatte es ja nicht einmal gebacken bekommen, länger als ein paar Stunden auf das Haus seiner Eltern aufzupassen.
    „Die Quelle, aus der sich die Macht der Rune speist, befindet sich am Ort der größten Schande“, sagte Alva, und Eduard bildete sich ein, diesmal Traurigkeit aus ihrer so gefassten Stimme herauszuhören. „Am tiefsten Punkt der Höhlen von Okara, wo die Gebeine aus uralten Zeiten verscharrt liegen. Wenn die Rune weiter ihre Wirkung entfaltet, dann werden uns diese Gebeine dort erwarten und niemanden in ihre Mitte lassen. Niemanden außer dich, Eduard, der du die gleiche Finsternis mit ihnen teilst.“
    „Also… ich weiß ja nicht…“, murmelte der Angesprochene. „Der Ork vorhin hat nicht den Eindruck gemacht, als ob er mich empfangen wollte. Der hätte mich erschlagen, wenn du uns nicht rechtzeitig wegteleportiert hättest!“
    „Das wissen wir nicht mit Sicherheit“, behauptete Alva. „Es ist ein Risiko, das wir eingehen müssen, wollen wir nicht alle Teil der Finsternis werden.“
    „A… aber…“
    „Genug der Worte. Ich habe uns so tief hinab gebracht wie ich konnte. Es ist nicht mehr weit, folgt mir.“

    Eduard fand es schwierig einzuschätzen, wozu diese alten Tunnel wohl einmal angelegt worden waren. Manche Abschnitte wirkten wie natürlich entstanden, einmal kamen sie sogar an einem weißen Tropfstein vorbei, der aus der niedrigen Decke ragte. Dann wieder zwängten sie sich unter uralten Stützbalken hindurch, die so vermodert waren, dass sich Eduard fragte, ob der Tunnel nicht schon immer auch ohne sie gehalten hätte – oder jederzeit einbrechen konnte. Schließlich gelangten sie in einen weniger beengten Bereich, in dem die Wände mit Mauersteinen gepflastert waren. Im orangenen Licht von Alvas kleinen Leuchtpartikeln sah Eduard ein paar rostige Fackelhalter an den Wänden, aber sie waren alle leer. Irgendjemand musste hier einmal gelebt haben, tief unter Okara, vor unwahrscheinlich langer Zeit. All diese uralten Gemäuer waren schon immer hier gewesen, unter Eduards Füßen, seine gesamte Kindheit und Jugend lang, ohne dass er eine Ahnung von ihnen gehabt hatte. Ob Arved die ganze Zeit davon gewusst hatte?
    Sie hatten den steinernen Gang beinahe durchquert, als sie zum ersten Mal in der Stille ein Geräusch hörten. Ein tiefes Summen, das den Boden unter ihren Füßen zum Vibrieren brachte.
    „Jemand erwartet uns.“ Alva bedeutete ihnen, hinter ihr zu bleiben, während sie sich dem Durchgang zum angrenzenden Raum näherte. Eduard konnte schon erahnen, dass es der größte Raum war, auf den sie während ihrer Wanderung durch die Unterwelt von Okara bislang gestoßen waren. Als er Alva und Arved hinein folgte, stellten sich die Härchen auf seinen Armen auf und folgten zitternd den Schwingungen, die das Summen aussandte. Dieses Summen war ganz offenbar magischen Ursprungs, denn die kleine Halle mit der kuppelförmigen Steindecke, in die sie jetzt eintraten, war zerschnitten von einer Wand aus grauem Nebel, die den größten Teil des Raumes abtrennte. Dahinter konnte Eduard etwas erkennen, das wie ein rundes Loch im Boden aussah. Gleich hinter Wand leuchteten am Boden vier blutrote Runenzeichen, die er noch nie zuvor gesehen hatte: Scharfkantige Zeichen, jede Linie wie im Zorn in die Steinfliesen getrieben.
    Eduard war so von den Runen fasziniert, dass er die Gestalt, die jenseits der Nebelwand hockte, erst bemerkte, als sie sich zu voller Größe aufrichtete und ihnen entgegen trat. Es war ein Ork mit grünlichem Fell, in dem sich Moos und Gräser ausgebreitet hatten. Sein Gesicht war fast vollständig mit einer dicken Schicht weißer, vertrockneter Farbe bedeckt, die von Rissen durchzogen und an vielen Stellen aufgeplatzt und abgebröckelt war. Dazwischen glühten die gleichen roten Augen, die Eduard in dieser Nacht schon mehrmals angestarrt hatten.
    „Zurück“, wies sie Alva an, obwohl Eduard gar nicht daran dachte, sich der unheilvollen Wand aus dunklen Schwaden zu nähern. „Es ist bereits ein Schamane erwacht. Das ist kein gutes Zeichen.“
    Der Ork hinter dem Nebel zeigte keine Anzeichen von Aggression. Er schien abwarten zu wollen, was geschah.
    „Was sind das für Runen?“, fragte Arved seine Schwester und lud einen Bolzen in seine Armbrust nach, wohl hauptsächlich um nicht ganz untätig bleiben zu müssen. Eduard war sich ziemlich sicher, dass sich dieser Schamane von einem einfachen Holzgeschoss nicht beeindrucken lassen würde, wenn es die Nebelwand überhaupt durchdringen konnte.
    „Kannst du sie lesen?“
    Alva nickte. „Gib dein Leben und tritt ein. Jenseits dieser Grenze sind nur die Toten erwünscht.“
    „Wir… sterben, wenn wir durch den Nebel gehen?“, vergewisserte sich Eduard und machte sicherheitshalber noch einen großen Schritt zurück. „Das kann ja wohl keine Option sein, oder?“
    Mittlerweile rechnete er mit einer Menge, aber alles wollte er nun auch nicht mit sich machen lassen.
    „Nein“, sagte Alva, ohne sich zu ihnen umzudrehen. Es war schwer zu sagen, ob sie die Nebelwand ansah oder den Schamanen dahinter. „Für euch nicht.“
    Arved senkte die Armbrust und blickte seine Schwester irritiert an. „Was willst du damit sagen?“
    „Zu schade, dass unsere Eltern nicht mehr hier sind“, murmelte Alva mehr zu sich selbst. „Sie wären sicher begeistert, dass ihr Plan am Ende doch aufgegangen ist. Dass alles einen Zweck hatte.“
    „Alva…?“
    „Keine Sorge.“ Jetzt drehte sie sich doch zu ihrem Bruder um. Eduard glaubte, in ihrem flimmernden Gesicht ein bitteres Lächeln wahrzunehmen, aber dann musste er vor Schwindel den Blick senken. „Keine Sorge, Arved. Du weißt, ich habe mehr als ein Leben.“
    „Alva, nein!“
    Klappernd fiel die Armbrust zu Boden und löste den Schussmechanismus aus. Der Bolzen zischte senkrecht nach oben und zersplitterte hoch über ihren Köpfen an der steinernen Kuppeldecke. Arved stürmte los, aber eher er eine Chance bekam, Alva zu erreichen, da hatte sie schon den einen entscheidenden Schritt nach vorn gemacht. Über die magische Grenze hinweg, durch die Wand aus Nebel, hinüber auf die andere Seite.
    Etwas löste sich aus ihr, als sie die Barriere passierte. Der nackte Körper einer Frau stürzte aus ihr heraus und fiel zu Boden wie eine schlaffe Puppe, bleich und tot, mit geschlossenen Augen. Gleichzeitig machte auch Alva eine Veränderung durch. Eduard bemerkte es erst nur aus dem Augenwinkel, aber als er sich traute, sie direkt anzuschauen, da fühlte er keinen Widerstand seines Körpers mehr gegen den Anblick. Alles Unbehagliche, alles Unscharfe war ihr verloren gegangen, sie war plötzlich zu einem Menschen aus Fleisch und Blut geworden. Erst jetzt erkannte er, wie jung sie eigentlich war, und wie ungesund ihre Hautfarbe aussah. Sie kam ihm auf einmal furchtbar verletzlich und trostlos vor, ein wenig so wie sich Eduard vernachlässigte Kinder in einem schlecht geführten Waisenhaus vorstellte. Ein armes Mädchen, das sich einem mächtigen Schamanen aus uralten Zeiten entgegen sah, einem unsterblichen Anführer der Orks.
    Arved vergrub das Gesicht in den Händen, schien kurz davor zu sein, seiner Schwester durch die Nebelwand zu folgen, als der Schamane einen lodernden Feuerball erschuf und Alva entgegenschleuderte. Das Mädchen versuchte gar nicht erst auszuweichen. Alva riss die Arme auseinander und empfing die Flammen, die ihre Haut schmelzen und ihre Haare zu Asche zerfallen ließen. Ihre Kleidung wurde zu schwarzem Staub, gab den Blick frei auf rotes Fleisch, auf dessen nackter Oberfläche dicke Blasen aufplatzten wie sprudelnder Seifenschaum. Als Alva die Arme zueinander bewegte und die versengten Handflächen aufeinander legte, da schoss ein rasender Flammenstrom daraus hervor und erfasste den Schamanen, fraß Haar und Haut, Muskeln und Sehnen, bis nur noch schwarze Knochen und das nackte, ewige Leben übrig geblieben waren.
    Eduard stöhnte auf, als ihn die immense Hitzewelle erfasste. Er stütze sich an der Wand auf und versuchte gleichzeitig seine Augen vor der Trockenheit abzuschirmen. Der Schmerz in seiner Wunde war plötzlich kaum noch auszuhalten und nahm ihm für ein paar Sekunden die Sicht. Als die Hitze und der Schmerz nachließen und er sich traute, die Augen wieder einen Schlitz weit zu öffnen, da sah er, dass der Nebel fort war. Die magischen Runen am Boden leuchteten nicht mehr, waren kaum noch als blasse Kreidestriche auf den alten Steinfliesen auszumachen. Das verkohlte und halb geschmolzene Skelett des Orks lag verkrümmt auf dem Boden, der Arm ausgestreckt. In der schwarzen Knochenhand hielt er einen grünlich schimmernden Dolch, dessen Klinge sich in die verschmorten Reste von Alvas entblößter Brust gebohrt hatte.
    Arved kauerte neben der Leiche der anderen Frau, die an der Stelle lag, an der sich vorhin noch die Nebelwand befunden hatte, und die Alva wie aus dem Gesicht geschnitten war. Sein Blick war so leer, als ob auch ihn das Leben bereits verlassen hätte.
    „Fall hinab.“
    Eduard zuckte zusammen, konnte nicht zuordnen, wo die Stimme hergekommen war. Dann sah er, wie sich das verbrannte Gewebe in Alvas zerschmolzenem Gesicht bewegte, wie ihr lippenloser Mund Worte formte. Worte, die direkt an ihn gerichtet waren. Er fühlte sich angestarrt aus ausgebrannten Augenhöhlen.
    „Fall hinab in den Abgrund… ins Herz der Finsternis…“
    „Alia!“, schrie Arved auf und kroch zu der Verbrannten hinüber, versuchte mit zittrigen Händen, den Schamanendolch aus ihrer Brust zu lösen, dessen Klinge aber wohl längst mit ihrem Fleisch verschmolzen war. „Du wirst das überstehen, oder? Wir… wir bringen dir eine Pflanze – einen Ast, einen Grashalm, irgendwas… irgendwo muss es hier eine Pflanze geben! Alia? Alia, sag etwas!“
    Aber sie sagte nichts mehr. Nichts regte sich mehr in ihrem zerstörten Körper. Plötzlich war es ganz still geworden.
    „Worauf wartest du?“, krächzte Arved und deutete auf das kreisrunde Loch in der Mitte des Raumes. „Du hast sie gehört! Du musst hinab!“
    Zögerlich blickte Eduard zum Abgrund hinüber.
    „Aber… ich kann doch nicht ganz allein…“
    „Ich kann dir nicht helfen da unten“, sagte Arved leise. „Niemand kann das. Alva war die einzige, die dem Fluch etwas entgegensetzen konnte. Das war die Rolle, die meine Eltern für sie vorgesehen hatten, dazu haben sie sie erschaffen. Sie hätte mit dir hinabgehen sollen, nicht ich.“
    „Was soll das heißen… erschaffen? Und wieso…“ Eduard starrte auf die zweite, deutlich intaktere Leiche zu seinen Füßen. „Wieso gibt es plötzlich zwei Alvas?“
    „Es gab nur eine Alva“, sagte Arved. „Aber viel früher gab es einmal Alia und Ava, meine Schwestern. Ich durfte niemandem von ihnen erzählen, nicht einmal dir. Meine Eltern haben sie verborgen, bis sie alt genug waren für die Vereinigung.“
    „Vereinigung?“, wiederholte Eduard verwirrt, als ihm auf einmal ein Gedanke kam. „Du meinst… Simultanteleport?“
    Eduard kannte die Geschichten von Experimenten, bei denen man Menschen zum gleichen Zeitpunkt an die gleiche Stelle teleportiert hatte, um sie miteinander zu verschmelzen. Es hatte übergeschnappte Magier gegeben, die glaubten, dass sich dabei die magischen Potentiale vervielfachten, die natürlicherweise in jedem Menschen schlummerten – in einigen stärker, in den meisten schwächer ausgeprägt. In den Gruselgeschichten entstanden dabei grässliche Monster oder allmächtige Magier, in der Realität war bislang noch jede Versuchsperson gestorben. Jedenfalls soweit Eduard wusste. Bis jetzt hatte er geglaubt, dass solche furchtbaren Experimente der grauen Vergangenheit angehörten.
    „Ja. Als meine Eltern Zwillinge bekamen, haben sie darin einen Auftrag der Götter gesehen. Alva sollte die gewaltigste Magierin von allen werden, die Erlösung für Okara. Aber jetzt ist sie tot. Es ist meine Schuld, Eduard. Der Schamane hätte sie niemals besiegen können, wenn das Sekret sie nicht geschwächt hätte.“
    Eduard schluckte. Er wollte ihm widersprechen, etwas Tröstendes sagen, aber ihm fiel nichts ein, das keine Lüge oder bloße Spekulation gewesen wäre. Er verstand ja noch immer nur die Hälfte von dem, was Arved ihm erzählte – und noch viel weniger von dem, was er ihm nicht erzählte.
    „Geh jetzt endlich!“, fuhr Arved plötzlich auf. „Wenn sie noch eine Hoffnung in dir gesehen hat, dann musst du tun, was sie von dir verlangt hat!“
    Zögerlich trat Eduard an den Rand des Schachts, der senkrecht in die Tiefe führte. Ein Boden war nicht auszumachen.
    „Ich – ich kann doch nicht einfach da runterspringen!“ Hilflos blickte sich Eduard im Raum um. Ein Durchgang führte zu einem abschüssigen Gang, der tiefer in den Untergrund zu führen schien. „Vielleicht finden wir einen anderen Weg hinab… es muss noch einen anderen geben, oder?“
    „Ja, Ede, sicher gibt es den. Aber ich kenne diese Gewölbe tausendmal besser als du, und nicht einmal ich habe eine Ahnung, wie wir durch dieses Labyrinth ganz nach unten kommen. Wir haben keine Zeit uns hier zu verlaufen! Es ist sehr einfach – ein Sprung, und du bist unten.“
    Je länger Eduard in die lichtlose Tiefe blickte, desto größer wurde sein Unbehagen.
    „Vielleicht… gibt es hier irgendwo einen Stein, den wir hineinwerfen können? Nur um erstmal zu gucken, wie…“
    „Keine Zeit, Ede." Arveds matte Stimme war plötzlich direkt hinter ihm. „Tut mir leid.“
    Ein kräftiger Stoß brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und er fiel hinab, dem Herz der Finsternis entgegen.

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Sie waren immer noch hinter ihm her.
    Godric warf einen hastigen Blick über die Schulter, während er sich keuchend den dicht bewachsenen Abhang hinauf kämpfte. Im Licht der magischen Kugel, die ihn schwebend begleitete, konnte er weiter unten zwischen den Bäumen schon wieder die massigen Körper der struppigen Bestien ausmachen. Er hatte das ungute Gefühl, dass der Lichtzauber seine Verfolger anzog wie die Motten. Doch selbst wenn er hätte versuchen wollen, sich ohne magische Hilfe in der Finsternis zurechtzufinden – einmal beschworen ließ sich das Ding nicht mehr ausschalten, er konnte nur abwarten bis der Zauber von selbst endete. Und die Chancen waren hoch, dass er das nicht mehr miterleben würde, dass seine eigenen Lichter noch ein bisschen früher ausgehen würden als das Licht seines Runenhandschuhs. Ein Sturz, vielleicht auch eine kleinere Unachtsamkeit würde ausreichen, und die Biester würden ihn erreicht haben.
    Verdammte Scheiße. Er hätte den Fluch am liebsten herausgebrüllt, aber er brauchte seinen Atem, um es irgendwie den immer steiler werdenden Waldhang hinaufzuschaffen. Wie hatte es nur so weit kommen können? Fast ein Jahrzehnt lang hatte er alles daran gesetzt, dass diese verfluchten Scheißorks niemals mehr die Sterne am Himmel zu sehen bekommen würden. Nur ein einziges Mal war er ein paar Minuten zu spät gewesen – ein einziges Mal in fast zehn Jahren! – und jetzt war er auf einmal nur noch Sekunden davon entfernt, von ihnen massakriert zu werden.
    Das hatten diese idiotischen Magier jetzt davon, dass sie seine beschissene Teleportrunenausnahmegenehmigung nicht hatten unterschreiben wollen. Zu Fuß würde er es niemals durch die Wälder zum nächstgelegenen Teleporter in Silden schaffen, nicht mit einer untoten Armee auf seinen Fersen. Irgendwo hier im Unterholz würden sie ihn erwischen, irgendwo hier würde er ausbluten und keine Sau würde was davon mitbekommen. Niemand würde eine Scheißahnung von irgendwas haben, nicht bevor die Orks in die Städte kommen würden. Und dann war die Kacke so richtig am Dampfen. Das hatten sie jetzt davon.
    Die Geräusche hinter ihm wurden lauter, und plötzlich mischte sich tiefes Knurren und zorniges Gekläffe dazwischen. Godric drehte sich im Laufen um, sah sechs rot leuchtende Augen auf ihn zurasen und riss die rechte Hand nach oben. Der erste der Warge hatte schon zum Sprung angesetzt, als ihn die Windfaust erfasste und den Abhang hinunterschleuderte. Japsend deutete Godric mit dem Zeigefinger auf das nächste untote Hundetier und ließ die magische Rune an der Fingerkuppe des Handschuhs aufleuchten. Ein weiterer Windstoß stieß durch die Luft, packte den Warg und schmetterte ihn an den Stamm einer alten Eiche. Es war der gleiche Augenblick, in dem Godric die Zähne des dritten Wargs in seinem rechten Arm spürte.
    Schreiend ging er zu Boden, als der Warg ein großes Stück Fleisch aus seinem Arm riss und triumphierend in die Höhe reckte. Aus einem großen Loch im Ärmel seiner Lederjacke suppte warmes Blut.
    „Verpiss dich, du Drecksvieh!“, brüllte Godric, verpasste der Bestie im Liegen einen kräftigen Tritt und schaffte es irgendwie, mit der zittrigen Hand in ihre Richtung zu deuten. Sein Mittelfinger klappte hoch und ein Eisstrahl schoss daraus hervor, der das offene Maul des Wargs als frostige Lanze durchstieß und seinen Schädel der Länge nach aufspießte. „Das… das war’s mit dir, du… argh…
    Sein ganzer Arm war schon klatschnass vor Blut, und erst jetzt bemerkte er, dass sich unter das Rot eine weitere Farbe gemischt hatte. Blau. Manablau.
    „Oh Scheiße… oh Scheiße, Scheiße…“
    Godric krempelte den zerfetzten Ärmel herunter und fühlte sich in seinen schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Der Warg hatte es mit seinen scharfen Zähnen durch den dicken Schlauch geschafft, der den Runenhandschuh mit den beiden schmalen Manatanks an der Innenseite der Lederjacke verband. Fassungslos sah er mit an, wie das blau glühende Elixir aus beiden Öffnungen des durchtrennten Schlauchs schwappte, versuchte hektisch, die beiden Enden mit der linken Hand irgendwie wieder miteinander zu verbinden, ineinander zu stecken, irgendwas – aber immer rutschten sie sofort wieder auseinander. Als er begriff, dass er das auf die Schnelle nicht wieder hinbekommen würde, richtete er hastig den kleinen Finger auf sich selbst und nutzte die Manareste, die noch im Handschuh verblieben waren, für einen allerletzten Heilzauber. Der Blutfluss stoppte, die Bisswunde schloss sich, aber bevor sie voll und ganz ausheilen konnte, da erlosch die Rune an der Fingerkuppe des Handschuhs. Das war es gewesen. Jetzt war er endgültig am Arsch. Und die Schritte der Orks im Unterholz waren so nah wie nie zuvor.
    „Aufstehen, du Penner“, schnaufte sich Godric Mut zu, kämpfte sich ächzend wieder in die Höhe, stolperte vorwärts den rutschigen Hang hinauf. Noch folgte ihm die Lichtkugel, aber wie lange würde der Zauber noch anhalten? Zehn Minuten, zwanzig? Wie lange noch, bevor ihn die Finsternis verschlucken würde, bevor er nur noch hilflos tastend durch das Dickicht irren konnte? Er machte sich keine Hoffnungen, dass die Orks dann seine Spur verlieren würden. Sie waren Kreaturen der Nacht, sie brauchten kein Licht, um ihn zu finden. Erst recht nicht, wenn er eine Tröpfchenspur aus leuchtendem Mana hinter sich herzog.
    Als er endlich an der obersten Stelle des Hangs angelangt war, konnte er hinter ein paar Bäumen ein Gebäude ausmachen. Es schien ein größeres Haus zu sein mit einem kleineren Gemüsegarten davor. An einem Baum hing eine alte, verwitterte Schaukel.
    Godric war so irritiert, dass er beinahe stehen geblieben wäre. Wer wohnte denn hier mitten im Wald, und das womöglich auch noch mit einem Kind? Oder bedeutete das etwa…
    „Scheiße!“, keuchte er im Rennen, und am liebsten hätte er die verdammte Schaukel dabei vom Ast gerissen. Er war im Kreis gelaufen, er war immer noch im beschissenen Okara! Es spielte keine Rolle, ob er die Orks abschütteln konnte oder nicht, er würde es niemals aus dem Dreckskaff herausschaffen. Wo sollte er jetzt hin? Seine Kräfte ließen nach, und die nächste Begegnung mit einem Warg oder Ork würde er ohne funktionierenden Handschuh wohl kaum überleben.
    Verzweifelt rannte Godric durch das Gemüsebeet, trampelte über Rüben und Knollen hinweg zur Eingangstür des Hauses und rüttelte am Griff. Natürlich, abgeschlossen. Mit zittrigen Fingern suchte er in seiner Jackentasche nach einem Dietrich, als er das Sirren hörte – gerade noch rechtzeitig, um den Kopf einzuziehen. Etwas Großes zischte über ihn hinweg, und im nächsten Moment steckte die gezackte Klinge einer grobschlächtigen Axt in der Tür.
    Godric drehte sich um, erwiderte die rot glühenden Blicke der Orks, die zwischen den Bäumen in der Finsternis aufflammten, einer nach dem anderen – und rannte.
    Er hechtete an der Hauswand vorbei zur anderen Seite des Gebäudes und fluchte im nächsten Moment laut auf, als er über einen großen Eimer stolperte. Der Behälter kippte um und eine zähe Masse aus Blut und Knochen ergoss sich über den Boden. Godric glaubte, Geweihreste und Hufe darin zu erkennen – wohnte hier ein Jäger? Die Fenster waren nicht erleuchtet, alles wirkte unbewohnt, aber dieses Tier musste vor nicht allzu langer Zeit erlegt worden sein.
    „Hey!“, brüllte er, während er einen großen Sprung über die Schlotze machte und weiterrannte. „Stadtwache Trelis, aufmachen!“
    Als er die Rückseite des Hauses erreichte, stürzte er sofort zur Hintertür und rüttelte auch hier am Türgriff – vergeblich. Hechelnd drehte er sich um und begriff, dass diese Anlage größer war, als er zuerst gedacht hatte. Weiter hinten konnte er den Umriss eines kleineren Gebäudes erkennen, und dazwischen… waren das Käfige? Tatsächlich, es schienen riesige Gitterkäfige aus Metall zu sein, die in langen Reihen zwischen dem größeren und dem kleineren Haus aufgestellt waren.
    Morastig platschende Schritte drangen an sein Ohr und vor seinem inneren Auge sah er die Orks, wie sie durch die Jagdabfälle stapften. Sie hatten ihn schon wieder fast eingeholt. Ohne nachzudenken stürmte er in die Richtung des kleines Häuschens, zwischen den großen Käfigen hindurch.
    Godric zuckte zusammen, als um ihn herum ein hundertfaches Brummen erklang. Jenseits der Metallgitter erhoben sich dicke, aufgedunsene Insektenkörper vom Boden und flogen ihm entgegen. Blutfliegen – welcher Vollidiot hielt sich verdammte Blutfliegen als Haustiere? Die aufgescheuchten Biester folgten ihm beharrlich, rammten aggressiv mit ihren Körpern das Metall, durchstießen mit ihren Stacheln immer wieder die Lücken im Käfig. Godric gab sein Bestes, ihnen irgendwie auszuweichen, hastete weiter voran, während es um ihn herum vor Flügeln und Stacheln nur so wimmelte. Das ohrenbetäubende Brummen war kaum auszuhalten, und Godric fürchtete schon, in einem Meer aus Flügeln und Stacheln zu versinken, als er endlich bei dem kleinen Holzhaus ankam.
    Er drückte den Türgriff herunter und hätte vor Überraschung und Dankbarkeit fast aufgeschrien, als sich die Tür einfach so öffnete. Ohne zu zögern rannte er in den Raum, stieß die Tür hinter sich zu – und war kurz davor, sie gleich wieder aufzureißen. Der enge, mit staubigen Kisten und schmutzigen Tischen vollgestellte Raum wurde von einem süßlichen und entsetzlich penetranten Gestank beherrscht. Ein Gestank wie ein kräftiger Tritt in die Fresse. So musste es in einem Scheißhaus voller parfümierter Leichen stinken, die in fauligem Obst gebadet hatten. Das suppige Beereneis, das er vorhin gegessen hatte, kam ihm plötzlich wieder hoch, und nur mit Mühe schaffte er es, das Zeug wieder runterzuwürgen. In was für eine kranke Scheiße war er denn jetzt schon wieder geraten?
    Godric schloss für einen Moment die Augen, versuchte, den Gestank so gut es ging auszublenden, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Orks. Die Orks waren das Wesentliche.
    Er sah sich suchend im Raum um, packte dann eine der Kisten und schob sie vor die Tür. Das Teil war verdammt schwer, irgendwelche Gerätschaften aus Metall klapperten darin herum – aber je schwerer die Kiste, desto schwerer würden es auch die Orks haben, einzudringen. Trotzdem würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis sie mit ihren Äxten durchgedrungen waren. Und dann saß er in der Falle.
    Scheiße.
    Er hatte sich wie ein verdammter Vollidiot selbst hier eingesperrt. Aber was hätte er sonst tun sollen? Wie viel länger hätte er noch rennen können, bevor ihm die Beine eingeknickt wären? Was hätte er denn –
    Ein dumpfes Donnern an der Tür, dann erneut. Das Splittern von Holz.
    Sie waren schon hier. Sie hatten begonnen.
    Hilflos suchte Godric mit den Augen den Raum ab. Er musste irgendetwas tun, er konnte nicht einfach abwarten, bis sie es hinein geschafft hatten! Plötzlich bemerkte er etwas am Boden, am anderen Ende des Raumes. Als er sich näherte, begriff er, dass es sich um eine Art Falltür handelte. Sie war mit mehreren Eisenketten gesichert, an denen sich Vorhängeschlösser befanden. Was auch immer sie versperrte, wohin auch immer sie führte – alles war besser, als auf das Unvermeidliche zu warten. Er schleuderte den nutzlosen Handschuh mit dem abgerissenen Schlauchende zur Seite, griff in die Jackentasche und fand den Dietrich diesmal sofort. Für das Schlösserknacken hatte er schon immer ein Händchen gehabt – zumindest, wenn dieses Händchen nicht so verflucht zittrig war wie jetzt gerade. Immer wieder rutschte ihm der Dietrich ab, einmal wäre er ihm fast abgebrochen, und bei jedem Axtschlag, der hinter ihm gegen die Kiste donnerte, fürchtete er, es könnte der letzte, der entscheidende gewesen sein.
    Als das letzte Schloss aufsprang, schob Godric die Ketten hastig von der Falltür weg, zog sie nach oben und erkannte ebenso verblüfft wie erleichtert, dass sich darunter eine Steintreppe verbarg, die hinab in einen unterirdischen Felstunnel führte – ganz offensichtlich viel älter als die Hütte selbst. Er rannte ein paar Stufen hinunter, wartete einen Moment ab, bis ihm die magische Lichtkugel gefolgt war, und bemühte sich dann, die Klappe so gut es ging wieder zu schließen. Er machte sich aber keine großen Hoffnungen, dass die Orks sie lange übersehen würden – er musste weiter, so schnell wie möglich.
    Seine Schritte hallten laut von den steinernen Wänden wider, während er dem Felsgang, der wie ein alter Bergwerksstollen auf ihn wirkte, in die Tiefe folgte. Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie lange der Lichtzauber noch halten würde. Vielleicht hatte er Glück und er fand hier irgendwo eine Lichtquelle… eine Fackel oder…
    „Hallo?“
    Godric zuckte zusammen.
    „Ist da jemand?“
    Die Stimme klang schwach und gebrechlich. Godric konnte im ersten Moment überhaupt nicht zuordnen, wo sie herkam und musste an einen ruhelosen Geist denken, der im uralten Gestein lebte. Dann sah er die Tür. Eine große, stabile Tür aus Stahl, die mit mehreren schweren Riegeln verschlossen war.
    „Godric, Stadtwache Trelis.“ Vorsichtig näherte er sich der Tür. „Wer spricht da?“
    „Ein – ein Stadtwächter?“, drang es heiser durch den dicken Stahl. „Oh bei den Göttern! Ich – ich heiße Martin. Bitte, ich flehe Euch an, holt mich hier raus!“
    Godric runzelte die Stirn. Unten an der Tür befand sich eine kleine Klappe, die sich aber offenbar nur von außen öffnen ließ. War das die Tür zu einem Gefängnis?
    „Du wirst hier gefangen gehalten, Martin, versteh ich das richtig?“
    „Ja“, kam es dumpf durch die Tür. „Dieser Junge, er muss den Verstand verloren haben! Ich glaube, er – er wollte mich an die Blutfliegen verfüttern! Wir waren zu viert hier drin, und dann hat er… dann hat er einen nach dem anderen herausgeholt. Oh bei den Göttern… ich bin der einzige, der noch übrig ist…“
    Godric musste an den Eimer mit der blutigen Plörre zurückdenken und hatte direkt wieder den säuerlichen Geschmack von hochgekotztem Beereneis im Mund. Waren das womöglich doch nicht nur tierische Überreste gewesen?
    „Okay, du – du bleibst schön weg von der Tür, klar?“, befahl er. „Ein paar Schritte zurückmachen, verstanden?“
    „Natürlich, ich… ich will doch gar nicht…“
    „Keine Spielchen, Kumpel!“, bellte Godric und warf einen nervösen Blick zurück. Noch waren keine Schritte auf der Steintreppe zu hören, aber er konnte sich hier nicht lange aufhalten. Früher oder später würden die Orks auf die Falltür aufmerksam werden.
    „V… verstanden!“
    Die Stimme war ein bisschen leiser geworden, offenbar hatte Martin seinen Befehl befolgt. Godric kannte diesen Typen nicht und er wollte kein unnötiges Risiko eingehen, aber er konnte ihn auch nicht einfach eingesperrt lassen. Er war immer noch ein Stadtwächter, auch wenn er sich ohne seinen Handschuh wie ein wehrloser Volldepp vorkam.
    „Ich komme jetzt rein. Keine falsche Bewegung!“
    Godric beeilte sich, nacheinander die Riegel zu öffnen, drückte die Klinke herunter und zog die Tür nach außen auf, wozu überraschend viel Kraftaufwand nötig war. Das erste, das er wahrnahm, war der üble Gestank nach Fäkalien und Pisse. Dann schwebte die magische Kugel hinein und warf ihr Licht in einen engen Raum, der mehr mit einem steinernen Sarg als einem bewohnbaren Zimmer gemein hatte. In einer Ecke war schmutziges Stroh ausgelegt, auf dem Boden stand eine Schüssel mit den Resten irgendeiner Pampe. Martin presste sich an die hintere Wand und starrte ihn aus angsterfüllten Augen an. Er war ein alter Mann mit abgerissenen Klamotten, wirrem Bart und schulterlangen grauen Haaren, die ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht fielen. Alles an ihm machte den Anschein, dass er sein halbes Leben in diesem erbärmlichen Gefängnis verbracht hatte.
    „Was für eine Scheiße“, seufzte Godric. „Okay, mach dich locker, Kumpel, ich tu dir nichts.“
    „D… danke“, entgegnete Martin, ohne sich erkennbar zu entspannen. „Ihr müsst mich hier rausbringen, bevor Arved… bevor er…“
    „Arved?“ Godric brauchte einen Moment, bevor er wieder wusste, wo er den Namen gehört hatte. „Dieser kleine Penner mit der Armbrust? Der hat dich hier eingesperrt?“
    „Er – er kann jeden Moment zurückkommen, er –“
    „Okay, pass auf.“ Godric rieb sich die Augen und versuchte, in dem ganzen Wahnsinn einen klaren Gedanken zu fassen. „Dieser Arved ist jetzt gerade nicht unser Problem. Eine Armee von untoten Orks ist hinter mir her, und ich hab keine Zeit, hier erstmal mit dir Händchen zu halten. Wenn du willst, dann komm mit, aber beeil dich besser, klar?“
    „O… Orks…?“
    „Ja, verdammte Orks!“, schnaufte Godric. „Bak Garam, schon mal gehört? Die Sekte?“
    Der Alte sagte nichts, starrte ihn nur weiter entgeistert an.
    „Scheißegal. Die Arschlöcher haben uns die Orks auf den Hals gehetzt, das ist alles was du wissen musst. Wir können nicht nach oben, also müssen wir tiefer in diese Höhlen. Und dann irgendwie raus aus Okara.“
    „Warte… mein Haus!“, stammelte Martin plötzlich. „Wir müssen zu meinem Haus! Ich – ich habe dort eine Teleportrune!“
    „Achja?“ In jeder anderen Situation hätte er den Kerl jetzt erstmal ausgiebig befragen und danach wahrscheinlich einbuchten müssen. Aber aktuell kümmerte ihn kaum etwas weniger als irgendwelche Runengesetze. „Und wo führt die hin?“
    „Nach Khorinis, Herr Godric. Meine Frau, sie –“
    „Deine Frau interessiert mich einen Scheißdreck!“
    Khorinis, das war am Arsch der Welt. Aber dort gab es einen Teleporter, mit dem er zurück nach Trelis reisen konnte. Vielleicht war das seine große, allerletzte Chance, aus diesem Höllenloch noch einmal lebend rauszukommen.
    „Okay.“ Er atmete tief durch. „Dein Haus, wo genau ist das?“
    Bevor der Alte antworten konnte, da hörte er sie.
    Schritte.
    Schritte auf der Steintreppe, hundertfach widerhallend.
    „Scheiße! Wir müssen hier weg, wir –“
    Auf einmal stand Martin direkt vor ihm, so nah, dass er seinen üblen Atem riechen und die dicken Härchen sehen konnte, die aus seiner Nase ragten. Er sah ihm direkt in die Augen, und da war keine Furcht mehr.
    Es war nur ein Moment, der letzte kurze Augenblick, bevor das magische Licht über ihm erlosch und alles in Dunkelheit tauchte.

    Arved stand am Rand des Schachts und blickte hinab in die Schwärze, die Eduard verschluckt hatte.
    Jetzt war es, als hätte es ihn nie gegeben. Als wäre er niemals ohne jede Vorwarnung in seinem Haus aufgetaucht, als wäre er immer nur eine zunehmend verblassende Erinnerung an eine unbeschwertere Vergangenheit geblieben.
    Aber Eduard war hier gewesen, für ein paar Stunden war er zurückgekehrt.
    Hatte er seinen alten Freund gerade umgebracht? Für eine kleine Hoffnung, an die er selbst nicht glaubte?
    Aber Alia… Alia hatte daran geglaubt.
    Er wollte nicht länger in den Abgrund schauen, aber noch weniger wollte er sich zu seinen toten Schwestern umdrehen. Hätte er früher zu Alva gehen sollen? Hätte er ihr alles erzählen sollen, alles was seine Eltern ihm vor ihrem Tod mit auf den Weg gegeben hatten? In so vielen schlaflosen Nächten hatte er sich gefragt, welchen Rat ihm Alva geben würde, wenn er sich ihr anvertraut hätte. Was sie von dem Gefangenen gehalten hätte, den seine Eltern ihm vererbt hatten. Vielleicht hätte sie eine bessere Idee gehabt als er. Vielleicht hätte sie einen Weg in seine geheimen Gedanken gefunden, wäre dort weitergekommen, wo er gescheitert war.
    Wie er überhaupt in allem gescheitert war.
    Dabei hatte er doch alles getan, was seine Eltern ihm aufgetragen hatten. Er hatte die Farm am Leben gehalten. Er hatte alle alten Runen, die sie entdeckt hatten, regelmäßig mit dem Sekret der Blutfliegen versiegelt, damit sie nicht geortet und aktiviert werden konnten. Und hatte er wirklich damit rechnen können, dass es noch eine weitere alte Rune gab, ausgerechnet unter Eduards Haus? Konnten seine Eltern ihn dafür verurteilen, dass er nicht gefunden hatte, wovon sie selbst nie eine Ahnung gehabt hatten?
    Es spielte keine Rolle, welche Antworten er auf diese Fragen fand. Alva hatte ihm nie verziehen, dass er nichts gegen die Vereinigung unternommen hatte, und jetzt hatte er auch noch seine toten Eltern enttäuscht. Er hatte sie alle enttäuscht – und Eduard, den hatte er umgebracht.
    Ein schrilles Schleifgeräusch ließ ihn aufschrecken. Aus dem Durchgang, der tiefer in das Labyrinth führte, war ein großer, grauer Ork getreten, der eine rostige Zweihandaxt hinter sich herzog und damit Furchen in den alten Stein fräste. Sein Fell war von Schlamm und Erdbrocken durchzogen, um seinen linken Hauer wand sich ein Regenwurm. Und hinter ihm, da leuchteten viele weitere rote Augen in der Finsternis auf.
    Instinktiv rannte Arved los in die Richtung, aus der sie vorhin gekommen waren. Die Armbrust lag noch immer am Boden, da wo sich eben noch die magische Nebelwand befunden hatte. Als er sie gepackt und gerade einen Bolzen eingespannt hatte, da erstarrte er plötzlich. Drei, vier Orks näherten sich ihm schlurfend, in den Händen gezackte Schwerter. Sie kamen von beiden Seiten, begriff er, sie hatten ihn eingekreist.
    Arved stolperte zurück in die kleine Halle. Er rannte bis zum Schacht, sah sich verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit um und fand keine. Von der anderen Seite des Abgrunds blickte ihm der riesige Ork mit der Zweihandaxt entgegen, hinter ihm stürmten weitere Orks den Raum.
    Hilflos zielte Arved mit der Armbrust in alle Richtungen, wusste, dass er unmöglich mehr als eine der untoten Kreaturen erwischen konnte. Er saß in der Falle. Eine Falle, aus der es nur einen einzigen Ausweg gab.
    Ein letztes Mal starrte er hinab in den schwarzen Schacht.
    Dann sprang er.

    „Jetzt mach es doch nicht so spannend.“
    „Nur noch eine Sekunde! Noch nicht umdrehen, ja?“
    Eduard presste die zittrigen Lippen vor Konzentration fest aneinander, als er dem Runenstein einen letzten entscheidenden Stupser gab. Er war jetzt genau mittig unterhalb des großen Asts positioniert, den er sich schon vor ein paar Wochen für diesen besonderen Moment ausgeguckt hatte. Es war noch immer nicht ganz in seinem Kopf angekommen, dass dieser Moment jetzt da war. So viel Vorbereitung, so viele durchtüftelte Nächte, die alle auf die nächsten paar Sekunden hinauslaufen würden.
    „Geschi fängt gleich an“, erinnerte ihn Rebecca ungeduldig. „Und da bin ich doch am Montag schon zu spät gekommen.“
    „Wir haben noch fast fünf Minuten, das reicht locker“, versprach Eduard eilig. Es war das erste Mal, dass er mit Rebecca allein in dem kleinen Wäldchen hinter der Schule war. Eigentlich war es das erste Mal, dass er überhaupt irgendwo allein mit ihr war. Es war bestimmt ein gutes Zeichen, dass sie direkt mit ihm mitgekommen war, aber trotzdem trug das nicht zu seiner Beruhigung bei. Ganz im Gegenteil, plötzlich klapperten ihm sogar die Zähne vor Nervosität. Hoffentlich hörte Rebecca das nicht.
    „Du kannst jetzt gucken.“
    Als sie sich mit niedlich gerunzelter Stirn zu ihm umdrehte, war Eduard so sehr damit beschäftigt, ihrem Blick auszuweichen, dass er im ersten Moment ganz vergaß, den Zauber auszulösen. Hastig legte er den Finger auf die Rune, ließ seine magische Energie hineinströmen und schaute den tausenden blau leuchtenden Lichtpünktchen dabei zu, wie sie aus dem Runenstein in die Höhe strömten. In der Luft setzten sie sich zu einem kleinen, halb durchsichtigen Körper zusammen, der genau über dem Ast schwebte, ganz so als ob er auf ihm sitzen würde. Die Illusion war perfekt.
    „Das ist ja… ein, ein…“, begann Rebecca. „Ein kleines Tierchen?“
    „Ein Eichhörnchen“, half ihr Eduard auf die Sprünge. „Du, äh, du magst doch Eichhörnchen, oder?“
    „Ein Eichhörnchen, ja, stimmt!“, freute sich Rebecca und trat ein bisschen näher, um das magische Nagetier genauer zu betrachten, das gerade possierlich schnüffelte. „Das ist ja putzig! Wo hast du die Rune denn her? Sowas hab ich ja noch nie gesehen.“
    „Also, eigentlich…“, murmelte Eduard verlegen. „Eigentlich ist das eine Lichtrune. Ich hab da ein bisschen dran rumgefummelt.“
    „Echt?“, gab Rebecca erstaunt zurück. „Woah. Du bist echt voll gut in sowas, krass. Hey, weißt du was?“
    Eduard hatte natürlich auf so eine Reaktion gehofft, aber fühlte sich jetzt doch ein bisschen überfordert davon, wie begeistert Rebecca ihn anstrahlte.
    „Öhm, was denn?“
    „Wenn du mal ein Mädchen so richtig beeindrucken willst…“ Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Wenn du mal eine findest, die du so richtig toll findest… du weißt schon, ne? Dann musst du ihr sowas schenken, am besten mit ihrem Lieblingstier! Das kommt bestimmt voll gut an!“
    Eduard musste so schwer schlucken, dass sein Hals schmerzte.
    „Äh, ja… danke für den Tipp…“
    „Jetzt müssen wir aber echt zu Geschi. Boah, das hat doch bestimmt schon angefangen.“
    Eduard hob den Stein vom Boden auf, und das Eichhörnchen verschwand. Eigentlich hatte alles hervorragend geklappt, aber irgendwie hatte er sich den Ausgang des Ganzen anders vorgestellt. Seine Zähne klapperten plötzlich noch stärker, und ein nervöses Zucken in den Fingern war dazugekommen.
    „Duuu, Eduard?“, flötete Rebecca, als sie sich gemeinsam auf den Rückweg gemacht hatten. „Du kannst mir die Rune nicht vielleicht mal ausleihen?“
    „Ja, also… wenn du… “
    „Ich könnte sie Kevin zeigen, weißt du?“ Rebeccas Augen leuchteten. „Am besten in so einem richtig romantischen Moment! Ich könnte ihn zu einem Picknick am See einladen und dann…“
    „Kevin?“ Das Zucken in den Fingern wurde stärker. Schweiß trat auf seine Stirn. „Kevin… interessiert sich für Eichhörnchen?“
    „Ja klar“, bestätigte sie begeistert. „Irre, wie viele Gemeinsamkeiten wir haben, oder? Das wär voll lieb, wenn du mir die Rune leihen könntest. Also, nur wenn es keine Umstände macht. Ich geb sie dir auch wieder natürlich!“
    Eduards Finger verkrampften sich, als die Wunde an seinem Hals aufflammte.
    „Natürlich geb ich dir die Rune“, presste er hervor. „Das macht… das macht überhaupt keine…“
    Er musste in die Knie gehen, die Schmerzen wurden unerträglich.
    „…überhaupt… keine… Umstände…“
    Es brach aus ihm hervor. Seine Haut platzte auf, machte Platz für schwarzes Fell in dicken Büscheln. Grellrote Flammen schossen aus seinen Augen, austreibende Krallen ließen seine Fingernägel bersten. Mit wild schnappenden Kiefern stürzte er sich auf Rebecca, riss sie zu Boden und wühlte mit Klauen und Zähnen durch ihr Fleisch. Er umklammerte ihren roten Körper, drückte sie fest an sich und schmeckte ihr Blut auf den haarigen Lippen, während sie gemeinsam in die Tiefe stürzten.
    Dem Herz der Finsternis entgegen.


    Arved lag in völliger Dunkelheit. Er öffnete und schloss die Augen, aber es änderte nichts. Alles blieb schwarz.
    Der Boden war mit einer dickflüssigen, schlammigen Substanz bedeckt, die sich durch seine Kleidung bis auf die Haut gesaugt hatte. Sein Unterkiefer brummte, und beim Fallen musste er sich den linken Arm unglücklich eingeklemmt haben, denn er schmerzte höllisch bei jeder noch so kleinen Bewegung.
    Er versuchte aufzustehen, und als ihm das vor Schmerzen nicht gelang, da hob er den Kopf auf der Suche nach einem Lichtschein. Irgendwo weit über ihm am anderen Ende des Schachts mussten die orkischen Wiedergänger zu ihm herunterschauen, aber da war kein Licht, keine noch so geringe Abweichung vom endlosen Schwarz. Es war, als ob er ins buchstäbliche Nichts gesprungen war. Ein Nichts, aus dem es kein Zurück mehr gab.
    Und still war es, entsetzlich still.
    „Ede…“, brachte er krächzend hervor. „Ede, bist du hier irgendwo?“
    Keine Antwort.
    Alles was er wahrnahm, war sein eigener rasselnder Atem und eine wild pumpende Ader an seiner Schläfe, sonst war da gar nichts.
    Bis er das Knurren hörte.
    Zuerst war es so leise, dass er schon glaubte, das Brummen seiner Blutfliegen darin wiederzuerkennen, aber je lauter es wurde, desto fremdartiger kam es ihm vor. Und es wurde sehr schnell lauter.
    Es kam näher.
    Arved biss die Zähne zusammen, versuchte sich in die Höhe zu stemmen, aber konnte die Kraft dazu nicht aufbringen. Stöhnend sackte er in sich zusammen, ließ seinen Körper in den zähen Morast sinken – als ihm etwas Schweres in den Rücken sprang und ihn nach vorne schleuderte. Sein Gesicht landete im Morast, eine ölige Substanz presste sich in seinen Rachen. Hustend und spuckend kam er wieder an die Oberfläche, wischte sich panisch mit der rechten Hand durch das Gesicht – und sah den Warg.
    Wie kleine Flammen leuchteten die Augen im ungetümen Wolfsgesicht, tauchten den schlammigen Untergrund in ein rötliches Licht. Der Warg kauerte direkt vor ihm, fixierte ihn schnaufend, bereit zum Absprung, bereit zum nächsten Angriff. Er ähnelte demjenigen, dem er vor ein paar Stunden am Brunnenplatz einen Bolzen verpasst hatte, aber Arved war sich völlig sicher, dass es nicht der gleiche war. Etwas an ihm war anders, etwas in seinem Blick versetzte ihm einen Stich, weckte Erinnerungen, schöne und schuldhafte. Plötzlich kam es über ihn und er begriff, in welchem Gesicht er diesen Blick schon einmal gesehen hatte – schon so oft gesehen hatte.
    „Ede…?“
    Als der Warg die Zähne bleckte, sah Arved die unbehaarte Stelle an seinem Hals. Eine Aussparung im Fell, in der Form einer Bisswunde. Es war viel schneller gegangen, als Alva geglaubt hatte. Die Finsternis hatte Eduard verschlungen.
    „Ede, ich wollte nicht – ich – ich hatte keine Wahl –“
    Der Warg riss das Maul auf und fauchte ohrenbetäubend. Hilflos robbte Arved im Schlamm zurück, stöhnte auf, als ihm der Schmerz die Tränen in die Augen trieb. Plötzlich stieß er mit der rechten Hand an etwas Schweres. Hastig drehte er sich danach um und erkannte im schwachen roten Licht die klobigen Umrisse seiner Armbrust.
    Sklaventod.
    Arveds Hand schnellte vor, aber Eduard war schneller. Er sprang auf ihn zu, vergrub in rasendem Zorn die messerscharfen Wolfszähne in seinem Arm. Schreiend versuchte Arved ihn abzuschütteln, trat verzweifelt nach ihm aus. Aber je mehr er sich wehrte, desto wilder schlug Eduard mit den Klauen um sich, traf Arveds Gesicht, seinen Brustkorb – die Armbrust –
    Es klickte leise, als sich der Mechanismus löste.
    Dann ein Surren.
    Der Warg zuckte zurück. Erst als sich die warmen Schmerzen in seinem Körper ausbreiteten, begriff Arved, was geschehen war.
    Er sank matt in den Morast, umklammerte mit bebender Hand den Bolzen, der aus seinem Bauch ragte, um sie im nächsten Moment wieder kraftlos sinken zu lassen. Er fühlte, wie das Leben aus ihm herauslief und sich mit der öligen Flüssigkeit am Boden des Schachts vermengte.
    Die schlaffen Lider fielen ihm zu, und er konnte sie nur noch ein letztes Mal öffnen, um in Eduards glühende Augen zu schauen. Kurz tauschten sie einen Blick, fast war da wieder ein Moment der Vertrautheit, aber dann wandte sich der Warg von ihm ab, verschwand leise schnaubend in der Dunkelheit, um seine Reise in das Herz der Finsternis fortzusetzen.

    Als Godric wieder zu sich kam, fühlte er das Brennen.
    Eine fiebrige Hitze ging von seiner Stirn aus, wie von einer entzündeten Fleischwunde.
    Er öffnete die Augen und sah in das Gesicht des Alten, das in bläuliches Licht getaucht war. Ein konzentriertes Lächeln zeichnete sich auf seinen verkrusteten Lippen ab.
    „Oh, du bist wach?“, krächzte der alte Mann. „Nur die Ruhe, ich bin gleich fertig mit dir.“
    Godric wollte etwas sagen, aber in seinem Mund steckte ein dicker Klumpen Stoff. Verstört schaute er an sich herunter und sah, dass Arme und Beine mit Seilen an einen Stuhl gebunden waren. Dunkle Haare, die nach seinen eigenen aussahen, lagen in großen Büscheln auf seinem nackten Schoß verstreut. In der Hand des Alten blitzte eine metallene Nadel auf, als er sich zu einem Tisch umdrehte, um sie in ein schmutziges Glasgefäß mit einer blau leuchtenden Flüssigkeit zu tunken.
    „Es wird schön“, murmelte der Alte. „Das verspreche ich dir.“
    Er beugte sich so nah über sein Gesicht, dass seine klebrigen Haarsträhnen über Godrics Wangen streiften. Glühende Tropfen fielen von der Nadelspitze auf seine entblößte Brust und verdampften auf der schmerzhaft brennenden Haut.
    „Wunderschön.“
    Der alte Mann setzte die Nadel auf seine Stirn und stach zu.

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Wie ein wütender Blitz zuckten die Risse über die Schieferplatte, als die Spitze des Meißels auf das Gestein traf. Der Schamane löste die ersten Bruchstücke heraus, setzte dann erneut an. Das Werkzeug bebte in seinen zittrigen alten Händen, mehrmals rutschte es ihm ab, brachte den Schiefer zum Splittern. Aber es kam nicht auf Kunstfertigkeit an, nicht auf Gleichmäßigkeit, erst recht nicht auf Schönheit. Alles was zählte, war seine Entschlossenheit.
    Der Lärm draußen, die Schreie und Rufe, sie klangen schon viel näher als noch vor wenigen Minuten. Hier in seiner Hütte aber war es völlig still, nur der Meißel sprach. Die Krieger, die sich dicht gedrängt um ihn versammelt hatten, sahen schweigend dabei zu, wie er die Platte nach und nach in achtunddreißig Bruchstücke zerteilte, warteten geduldig ab, bis er jedem von ihnen einen der Steine überreicht hatte. In manchen Gesichtern spiegelte sich sein eigener fester Wille, andere waren voller Furcht. Er wusste, dass nicht alle von ihnen weit kommen würden. Aber es genügte einer, nur ein einziger, um einen Unterschied zu machen.
    „Grosh-Nak!“
    Die Tür wurde aufgestoßen, als er gerade das letzte Schieferstück überreichte. Er drehte sich um und schaute in das Gesicht seines Großenkels Varrok, das eine große Wunde an der Stirn zur Hälfte in Rot getaucht hatte.
    „Die Morras sind überall!“, krächzte Oberst Varrok mit heiserer Stimme. „Sie haben den inneren Wall durchbrochen, sie dringen in jedes Haus ein!“
    „Dann geh und kämpfe“, forderte der Schamane. „Worauf wartest du, Varrok? Du stehst auf zwei Beinen, du hast zwei Arme, also geh und kämpfe.“
    „Ja, Grosh-Nak, ich kämpfe. Aber ich nehme meine Männer mit.“ Er streckte die Hand mit der blutverschmierten Axt aus und deutete damit im Halbkreis auf die versammelten Krieger. „Wir brauchen jeden einzelnen. Wir brauchen sie in der Schlacht – nicht zum Schutz eines einzigen alten Mannes.“
    „Hüte deine Zunge, Junge“, zischte Grosh-Nak, „oder es könnte kein Morra sein, der sie dir aus dem Maul rupft. Als dein Ältester und als dein Stammesführer befehle ich dir, in die Schlacht zurückzukehren.“
    Varroks Finger verkrampften sich um den Griff seiner Axt, seine wulstigen Lippen zitterten. Als Grosh-Nak schon glaubte, er wollte die Waffe gegen ihn erheben, da geriet plötzlich ein Ausdruck von Verzweiflung und Traurigkeit in seinen Blick.
    „Urgroßvater, bitte… die Morras, sie verschonen niemanden. Sie…“ Er holte tief Luft, als sich Tränen in seinen Augen bildeten. „Sie werfen alle auf einen Haufen, vor den Toren der Stadt. Frauen, Kinder… Sie werden nicht ruhen, bis wir alle auf diesem Haufen liegen.“
    „Und sie sind fast unverwundbar in ihren strahlenden Rüstungen, habe ich recht?“
    „Auf einen Toten von ihnen kommen fünf von uns“, bestätigte Varrok. „Ich flehe Euch an, Urgroßvater, wir brauchen jeden Mann. Und diese hier gehören zu unseren besten!“
    „Was werden sie erreichen unter deiner Führung?“ Grosh-Nak lachte bitter auf. „Kaum mehr als eine Hand voll toter Morras, wenn ich deiner Rechnung glauben darf. Du weißt so gut wie ich, dass die Schlacht verloren ist.“
    „Das… das wissen wir nicht. Wenn wir tapfer kämpfen, wenn – wenn die Ahnen uns mit einem Lächeln –“
    „Niemand wird heute Abend lächeln“, unterbrach ihn der Schamane. „Niemand außer die Morras. Wir können nur an morgen denken.“
    „Morgen werden wir längst alle tot sein!“
    „Ja“, murmelte Grosh-Nak und fuhr sich durch den struppigen Bart. „Morgen werden wir alle tot sein. Jetzt geh, Varrok, stirb so gut du kannst, und lass alles andere meine Sorge sein.“
    Der junge Oberst starrte ihn entgeistert an. Dann, nach kurzem Zögern, ging er in die Knie und legte die Axt vor ihm auf dem Hüttenboden ab.
    „Es tut mir leid, Urgroßvater, aber Ihr lasst mir keine andere Wahl.“ Er faltete die Hände und blickte zu ihm auf. „Im Angesicht der Ahnen fordere ich Euch, Stammesführer Grosh-Nak, zum Zweikampf um das Recht, den Stamm der Ur-Tosh zu führen. Ich verspreche, diesen Kampf mit Ehre und Nachsicht zu führen, und sollte ich siegreich sein, so gelobe ich –“
    „Ich habe keine Zeit für diesen Unsinn.“
    Grosh-Naks Hand schnellte vor und bohrte den Meißel so tief in Varroks Kehle, dass er auf der anderen Seite wieder herauskam. Röchelnd packte sich der junge Ork an den Hals, betastete hilflos das Mordwerkzeug, während das sprudelnde Blut sein Fell rot färbte. Ein paar letzte Zuckungen noch, dann sackte er in sich zusammen und blieb wie ein schlaffer Fußabtreter vor der Hüttentür liegen.
    Der Schamane wandte sich um und schritt zurück in den Kreis der Krieger. Kaum jemand suchte seinen Blick, niemand sagte ein Wort. Er wusste, dass sich niemand gegen ihn wenden würde, denn das Angebot, das er ihnen gemacht hatte, war ein so unendlich Besseres gewesen, als dasjenige, das der törichte Junge ihnen hatte unterbreiten wollen. Ihr Auftrag bestand darin zu fliehen, in alle Richtungen verstreut, so weit zu laufen wie sie konnten. Nicht um ihr eigenes Leben zu schützen, nicht als Feiglinge. Sie bekamen die Gelegenheit zu einer ehrenvollen Flucht – wenn sie es aus der Stadt herausschafften, dann konnten sie am Leben bleiben und gleichzeitig einer größeren Sache dienen. Jeder von ihnen hielt das Schieferstück fest umklammert, und sie würden es nicht loslassen, bis sie es entweder weit fort geschafft hatten oder bis der Feind sie niedergestreckt hatte. Und dort, wo der Stein schließlich den Boden berührte, dort würde er hinabgleiten in die Tiefe und als geheimes Saatkorn geduldig warten, bis seine Zeit gekommen war.
    Grosh-Nak wusste, dass er nicht der Erste war. Schamanen anderer Stämme hatten vor ihm ähnliche Rituale durchgeführt, und sie waren alle gescheitert. Sie waren gescheitert, weil sie versucht hatten, das Unvermeidliche abzuwenden, den Krieg mit den Morras zu Gunsten ihres Volkes zu entscheiden. Sie hatten Kreaturen aus Fleisch und Blut in ihre Welt gebracht, Dämonen von entsetzlicher Gewalt, die zahllose Leben auslöschten und die Gebeine ihrer Feinde als willenlose Sklaven zu neuem Leben erweckten. Aber ob in Gotha oder in den Bergen von Nordmar, jeder dieser Dämonen war irgendwann von den Morras erschlagen worden. Er selbst würde diesen Fehler nicht wiederholen. Ein Dämon aus Fleisch und Blut ließ sich bezwingen. Ein körperloser Dämon aber, der konnte auf ewig in der Welt bleiben, der würde sich einmal beschworen nicht mehr vertreiben lassen. Ein niemals ruhender Dämon, der die Herzen der Morras vergiften würde, gegen das Vergessen und Verleugnen, über dutzende und aberdutzende verfluchte Generationen hinweg. Ein Dämon der Rache.
    Grosh-Nak nahm das Ritualmesser aus seiner Halterung an der Wand und schritt in die Mitte der Krieger, die einen Kreis um ihn bildeten. Er löste den Verschluss seiner weißen Robe und ließ den Stoff zu Boden fallen. Dann nahm er auf dem Boden Platz, sog ein letztes Mal tief Luft ein, und setzte das Messer an seine Brust. Er presste die Klinge durch Fell und Fleisch, ließ Rippen bersten und Adern platzen. Als er die Verbindung gekappt hatte, da gruben sich seine alten Finger in die blutige Öffnung, griffen fest zu und zerrten das widerspenstig pochende Herz nach draußen. Ein letztes Mal führte seine Hand das Ritualmesser und schnitzte die alten Linien in das ersterbende Stück Fleisch, bis es sich nicht mehr regte.
    Noch bevor ihn die Finsternis erreichte, sah Grosh-Nak die grünen Runen auf den Schieferstücken aufglimmen.
    Das gleiche Zeichen überall.
    Der gleiche Name, der gleiche Fluch.
    Bak Garam.


    Auf allen Vieren rannte er durch die Dunkelheit. Seine Augen waren ihm nutzloser denn je, aber er hatte einen Geruch in der Nase, einen starken und mit jedem Schritt an Intensität zunehmenden Geruch von Verwesung. Dieser Geruch war seine Fährte durch den Untergrund, sein Weg hinab bis an den allertiefsten Ort.
    „Eine Armbrust bedient man nicht, ohne zu zielen.“
    Arveds Gesicht, kurz vor seinem Tod. Eduard rannte hindurch, zerfetzte es in der Luft, ließ es ein weiteres Mal ersterben, so oft er musste.
    „Es ist echt gut, jemanden zum Reden zu haben, Ede. Du weißt ja, wie meine Eltern sind.“
    Er wusste, wie Eltern waren. Er hatte auch einmal Eltern gehabt, aber jetzt waren sie weit fort, und er selbst…
    Was tat er hier? Was hatten sie von ihm gewollt?
    „Als ich in deinem Alter war, da habe ich schon ein Haus gebaut.“
    Ein Haus. Eduard erinnerte sich. Ein Haus, das ertrank in geschmolzenem Blauflieder-Waldbeeren-Eis und im kalten Blut des nackten Mannes, der am Nagel hing. Hatte er es wirklich zurücklassen dürfen? Hatte er nicht seinem Vater versprochen… hatte er nicht alles tun wollen, um das Haus…
    „Danke, dass du hier die Stellung hältst. Danke, dass du nicht vergessen hast, den Blitzzaun einzuschalten.“
    Das hatte er doch gemacht, den Blitzzaun eingeschaltet?
    Wieso konnte er sich dann nicht erinnern?
    Er wollte nachschauen, sich vergewissern, aber jetzt war er so tief unter der Erde, dass er niemals mehr einen Weg zurückfinden würde. Und er konnte nicht umdrehen, nicht solange es den Geruch gab, der ihn vorwärts zwang.
    Vorwärts, immer vorwärts, welche Richtung gab es sonst?
    „Das Beste aus deinen Möglichkeiten machen. Das Beste aus deinen Talenten machen.“
    Und er hatte so viele Talente, er war so ein talentiertes Kind, jeder sagte ihm das… wie leicht er sie alle beeindrucken konnte, sobald er eine Rune in die Finger bekam…
    „Unser Junge wird mal ein Magier. Wer sonst wenn nicht er?“
    So ein schönes buntes Licht. So ein niedliches Eichhörnchen. – Huch, wo ist er hin? Jetzt ist er hinterm Sofa, jetzt steht er auf dem Stuhl – bravo, hervorragend, ganz hervorragend! Ein gewaltiger Applaus, der für ein Leben reichen musste.
    „Dreizehn Leistungspunkte unter dem Soll, das sind die Fakten, so leid es mir tut.“
    Wann würde er es seinen Eltern sagen, dass sein Talent nicht für dreizehn Leistungspunkte mehr gereicht hatte?
    „Faulheit, bei dir ist das die reine Faulheit.“
    Wieso konnten sie ihm nicht einfach eine verdammte Rune in die Hand drücken?
    „Studentische Wohnungen sind an Leistung gekoppelt, so einfach ist das.“
    Deshalb war er hier unten in der Dunkelheit, das war der wahre Grund. Seine Dummheit, seine Faulheit, sein Mangel an Durchhaltevermögen.
    „Respekt, bis zur fünften Staffel? Ich bin schon in der ersten eingepennt.“
    Deswegen hatten sie ihn aus Vengard verbannt, aus König Rhobars Thronsaal, aus seinem Elternhaus, tief unter die Erde.
    „Von nichts kommt nichts.“
    Eduard heulte auf, ohne an Geschwindigkeit einzubüßen. Wieso durfte er nicht umkehren? Wieso durfte er nicht zurück zu Arved, zu Rebecca, zu seinen Eltern… er hatte sie doch alle lieb, gab es daran einen Zweifel? Wieso schickten sie ihn in die Dunkelheit?
    „Du musst es tun.“
    Alvas Stimme sägte an seinen Gedanken. Vergeblich versuchte er, sie aus seinem Kopf zu verbannen, ihre zwei miteinander verschränkten Gesichter zu vergessen. Er musste weiter. Die Beine schmerzten, die Lunge brannte, aber er lief und lief, bis der Geruch nicht mehr nur in seiner Nase war, sondern überall.
    „Das Herz der Finsternis zerschlagen.“
    Seine Schritte wurden langsamer. Er hatte ihn erreicht, den tiefsten Ort.
    Das rote Licht dutzender glühender Augenpaare erleuchtete die Höhle, in der sich ein monströser Berg aus aufgetürmten Leichen fast bis zur Decke erstreckte. Tausende mit dunklem Fell bedeckte Körper waren übereinander gestapelt, kleine und große. Orks in rostigen Rüstungen, in zerrissenen Roben, zertrümmerte und aufgeschnittene Kreaturen, die noch immer feucht waren vom Blut, das selbst nach Jahrhunderten nie getrocknet war, die sich inmitten einer Verwesung befanden, die niemals abgeschlossen sein würde.
    Als Eduard sich dem Berg näherte, da sah er die Bewegungen hier und da. Hände streckten sich aus der Leichenmasse hervor, pressten die Erschlagenen beiseite, um sich an die Oberfläche zu quetschen. Rotes Licht glühte in toten Augen auf, erweckte die alten Knochen und Muskeln wieder zum Leben. Lautlos, ohne ein Ächzen oder Stöhnen, kämpften sie sich den Körperberg hinab, stolperten zu den Höhlenwänden, um sie zu erklimmen oder sich mit bloßen Händen durch das Erdwerk zu wühlen. Sie alle wollten das Gleiche wie er, begriff Eduard. Sie wollten an die Oberfläche, zurück ins Leben, was immer das war.
    Aber er durfte ihnen nicht folgen. Er hatte sein Ziel vor Augen: Auf dem Gipfel des Berges, halb versunken in den toten Gebeinen, ruhte das schwarze Herz. Es war zu entsetzlicher Größe aufgequollen, ein haushoher Klumpen aus totem Muskelfleisch, durchzogen von ausgehärteten Adern. Eduard konnte tiefe Furchen darin erkennen, und er sah, dass sie ein Zeichen bildeten. Er hatte diese Rune schon einmal gesehen, unter dem Haus seiner Eltern. Er hatte nichts mit ihr anzufangen gewusst, und er wusste auch jetzt nichts mit ihr anzufangen.
    Was hatte sich Alva davon erhofft, ihn hierher zu schicken? Er kannte diese Rune nicht – wie konnte er auch alle Runen kennen? Wie konnten sie von ihm verlangen, hunderte Runen auswendig zu lernen? Allein in einem Gefrierraum stecken zweiunddreißig von ihnen, hattest du das gewusst, Papa? Man denkt, es ist nur eine einzige, nicht wahr, nur eine einzige Eisrune? Aber es ist alles so viel komplizierter.
    Wieso hatte ihm niemand gesagt, wie viel komplizierter, wie viel anstrengender alles sein würde?
    Als Eduard mit den Pfoten über die ersten Leichen hinweg stieg, bis er am Fuß des Berges angelangt war, als er hinauf blickte zum dunklen Herzen weit über ihm, da spürte er, dass Alva mit einer Sache recht gehabt hatte. Die Finsternis würde ihn empfangen. Sie hatte ihn nach ihrem Willen geformt und jetzt rief sie ihn zu sich. Aber Alva hatte sich getäuscht, wenn sie geglaubt hatte, er würde sich dieser Finsternis widersetzen können.
    Er würde niemals an die Oberfläche zurückkehren. Der Gedanke hatte auf einmal etwas Tröstliches. So viele Sorgen, die nie mehr eine Rolle spielen würden. Er würde das Herz der Finsternis erreichen, aber nicht um es zu zerschlagen. Er würde darin aufgehen, und dann würde diese furchtbare Nacht endlich ein Ende finden.
    Eduard tastete sich vor, suchte mit Krallen und Zähnen Halt in altem Fell und totem Fleisch, und begann seinen letzten, mühevollen Aufstieg.

    Godric bewegte keinen Muskel.
    Der Drang, sich am Kopf zu kratzen, wurde immer stärker. Jede einzelne der Linien hätte er blind nachzeichnen können anhand des Brennens und des Juckens auf seiner Haut. Er wollte seine Kopfhaut berühren, wenigstens nur kurz berühren, aber er bewegte keinen Muskel, denn er durfte nicht.
    Er stand neben der offenen Tür des Metallzauns und schaute den Orks dabei zu, wie sie durch die benachbarten Gärten schlurften, wie sie ihre schweren Körper gegen alte, morsche Türen prallen ließen, bis sie nachgaben und sie einließen. Wie sie ein paar Minuten später wieder herauskamen, mit einem verrotteten Apfel oder einem alten Spielzeug in den Pranken, oder was immer ihnen in die Hände gefallen war.
    Godric roch den Rauch, noch bevor er die Häuser brennen sah. Irgendwann wurde der Qualm dichter, wehte in seine Richtung und brachte ihn zum Husten. Er durfte sich nicht rühren, also wartete er inmitten des Qualms und im Angesicht der Flammen ab. Godric stand still, bis der alte Mann aus dem Haus zurückkam, in dem alles seinen Anfang genommen hatte.
    „Du hast recht gehabt.“ Der Alte lächelte ihn wohlwollend an, so wie ein Lehrer einen fleißigen Schüler anlächelte. „Diese Rune ist es. Sie leuchtet, sie strahlt, es ist herrlich.“
    Erleichtert spürte Godric, dass er sich wieder rühren durfte. Er blinzelte ein paar Mal, strich sich über die Glatze, und erschauderte vor der eigenen Berührung. Es war, als strich er einem Fremden über den Kopf.
    „Wie wäre es, wenn du mich begleitest?“, schlug der Alte vor. „Wir ziehen los in die Welt. Du wirst Zeuge erstaunlicher Ereignisse werden… ganz erstaunlich. Was sagst du?“
    Godric sagte, was er sagen durfte.
    „Ja.“
    Der Qualm war so dicht geworden, dass Godric schwindelig wurde. Überall flackerten jetzt rote Augen auf, Orks strömten herbei, in den Händen teils Plündergut, teils ihre eigenen schartigen Äxte und Schwerter. Im Garten gegenüber stand einer von ihnen lichterloh in Flammen, ohne von seinem brennenden Fell Notiz zu nehmen. Als der alte Mann durch die offene Zaunpforte nach draußen schritt, da hielt er noch einmal inne und drehte sich zu Godric um.
    „Zwei Jungen waren im Haus, hast du gesagt?“
    Godric nickte. „Zwei junge Männer.“
    „Wo sind sie jetzt? Sind sie tot?“
    Godric überlegte.
    „Ich weiß nicht.“
    „Wissen sie etwas?“
    „Ich glaube nicht.“
    „Wissen sie von der Rune?“
    „Sie… ja. Sie haben die Rune gesehen.“
    Kurz legte sich die Stirn des Alten in Falten, dann entspannte sich seine Miene wieder.
    „Vielleicht bleibst du noch eine Weile hier und wartest auf sie, was meinst du?“
    Godric wusste, fühlte, dass es kein Vorschlag war, sondern ein Befehl.
    „Wenn sie zurückkommen, dann töte sie. Würdest du das für mich tun?“
    Der alte Mann wartete Godrics Antwort nicht ab, hatte sich schon wieder umgedreht. Hunderte Orks umringten ihn in einer Wolke aus schwarzem Qualm. Niemand gab einen Laut von sich, in jedem roten Augenpaar ruhte ein ins Nirgendwo gerichteter Blick. Einer der Orks, die sie schon aus dem alten Bergwerk hierher begleitet hatte, trat an den Alten heran und überreichte ihm ein großes Zweihänderschwert mit pechschwarzer Klinge. Der alte Mann nickte fast feierlich, als er es entgegennahm, und als er beide Hände um den Griff schloss, da züngelten blutrote Flammen die Klinge empor und tauchten sie in loderndes Dämonenfeuer.
    Godric stand still inmitten des Rauchs und beobachtete, wie hunderte, tausende untote Leiber dem alten Mann in die Wälder folgten. Es war ein endloser Strom, der niemals versiegte, und alle strömten sie fort aus dem niederbrennenden Okara.
    Godric aber blieb und wartete.
    Er würde warten, ohne einen Muskel zu bewegen.
    Ein Gedanke tauchte in seinem Kopf auf. Ein Gedanke, der ihm so merkwürdig und fremd erschien, dass er erst begriff, dass es sein eigener gewesen war, als er ihn schon längst zu Ende gedacht hatte.
    Scheiße.

    Er hatte den Gipfel erreicht.
    Jeder Teil seines Körpers schmerzte, unter den Krallen seiner Pfoten steckten Büschel alter Haare und Fetzen toter Haut, aber er war angekommen. Eduard fühlte, wie eine große Last von ihm abfiel, als er über erstarrte Orkgesichter und ausgestreckte, steife Hände hinweg die letzten paar Schritte zurücklegte, als er dem riesigen, pechschwarzen Klumpen endlich gegenüber stand. Das war die letzte Anstrengung in seinem Leben gewesen, die letzte Leistung, die irgendwer von ihm verlangen konnte.
    Vorsichtig berührte er die schleimige Außenhaut des Herzens mit seiner Schnauze. Mühelos durchstieß sein Kopf die dünne Membran, drang vor in die Schwärze im Inneren, in eine Kammer ohne Ziele und Ansprüche, ohne Hoffnung und ohne Angst, ohne Chancen, ohne Scheitern. Die Finsternis hatte auf ihn gewartet und sie empfing ihn bereitwillig.
    Er war angekommen, dachte Eduard. Hierhin hatte ihn das Leben also geführt.
    Einen wunderbaren Moment lang gab er sich der Leere hin, bis er begriff, dass sie nur eine Illusion war.
    Er war nicht allein.
    Jemand teilte diese Zuflucht mit ihm, und Eduard konnte seinen Puls spüren. Im Inneren des mutierten toten Organs schlug er noch immer, ein Herzschlag geformt aus uralter Magie. Mit jedem Schlag glimmten irgendwo da draußen zwei rote Lichter in zwei leeren Augenhöhlen auf. Mit jedem Schlag pumpte dieses Herz seine Finsternis in einen der vielen zerschlagenen Körper, mit jedem Schlag wurde der Berg, auf dem es saß, ein kleines Bisschen kleiner. Es würde schlagen, bis der Berg irgendwann ganz abgetragen war, bis sie alle wieder in der Welt waren. Draußen in der Welt, an der Oberfläche, um die Menschen heimzusuchen. Bis sie ihre Rache bekamen.
    Die Finsternis griff nach Eduard, und der Herzschlag beschleunigte sich.
    Bak Garam.
    Panik erfasste Eduard, als er begriff, dass er keine Ruhe finden würde, dass er in eine schreckliche Falle getappt war. Das Wesen, das an diesem Ort hauste, es hatte ihn hergelockt. Ihn, eine lebendige Kreatur mit großem magischem Potential – und jetzt saugte es ihn aus, fraß an ihm, nährte sich an seinem Mana, um das tote dunkle Herz schneller und schneller schlagen zu lassen – um mehr und mehr schwarzes Blut in die Körper der Erschlagenen zu pumpen – um immer mehr untote Körper hinauf an die Oberfläche zu schicken –
    Es riss ihn auseinander, zerrte an jeder Faser seines Körpers. Fell, Haut und Krallen lösten sich auf, wurden Teil des dunklen Gewebes, während das fremde Wesen gierig sein Mana verschlang. Eduard wollte schreien, aber er hatte keinen Mund und kein Maul mehr. Er wollte um sich schlagen, aber es fehlten ihm Finger und Pfoten. Alles was blieb, war sein eigenes Herz, das seine ganze Kraft dafür hergab, dass Bak Garams aufgeblähtes Herz schneller und schneller schlagen konnte. So schnell, dass es sich fast überschlug, dass es bersten wollte vor Lebenskraft – vor Euphorie –
    „Das war unglaublich, Eduard!“
    „Und wie das geht, das hast du ganz allein rausgefunden?“
    „Du bist unser Wunderkind, weißt du das?“
    Seine Eltern, sein Onkel und seine Tante aus Silden und sogar seine immer schlecht gelaunte Kusine, sie saßen alle ganz ehrfürchtig auf dem Sofa und glotzten mit offenen Mündern das kleine Feuerwerk an, das sich über der manipulierten Lichtrune auf dem Küchentisch abspielte.
    Eduard strahlte, aber eigentlich wusste er gar nicht, was sie alle hatten.
    Es war doch ganz einfach.

    Er musste bloß aufhören, darüber nachzudenken.
    Das Herz war nichts weiter als eine Rune, und er musste sie nicht entziffern und entschlüsseln, er musste keine Nachschlagewerke, keine uralten Bücher und keine magitronischen Lehrbücher wälzen, um diese Rune zu begreifen. Eine Rune, die allgegenwärtig war, die ihn umgab, mit der er verschmolzen war. Er war ein Teil von ihr und sie war ein Teil von ihm. Sie hatte nicht die geringste Chance, sich ihm zu widersetzen. Kein Lichtzauber, keine Telekineserune hatte ihm jemals so willenlos gehorcht. Sie war es, die in seine Falle getappt war.
    Eduard hätte keinem Professor erklären können, wie er es tat, aber in einem einzigen Moment brachte er das Herz zum Stillstand. Der Pulsschlag verstummte, die Finsternis gefror zu schwarzem Eis.
    Eduard spürte den Zorn des Wesens, als es begriff, was geschehen war. Bak Garam wütete, aber es war eine ohnmächtige Wut. Die Kreatur hatte ihn zu einem Teil von sich gemacht, und sie konnte sich nicht gegen sich selbst wenden. Endlich spürte Eduard die Ruhe aufkommen, die Erleichterung, die er sich ersehnt hatte. Er hatte getan, was in seiner Macht stand, kein weiterer Toter würde zu neuem Leben erwachen. Er konnte das Herz der Finsternis vielleicht nicht zerschlagen, so wie es Alva von ihm verlangt hatte, aber er konnte es stilllegen, so lange wie es nötig war.
    Er würde niemals an die Oberfläche zurückkehren, aber hier unten hatte er eine Aufgabe. Egal was dort oben geschah, er würde hier bleiben, im Herzen der Finsternis, und es am Schlagen hindern.
    Er würde die Stellung halten.

    „Kommt heil zuhause an!“ Frida gab Karlotta ein Küsschen auf die Wange und drückte sie fest an sich. „Wirklich schade, dass ihr nicht noch ein bisschen bleiben könnt. Die paar Tage sind ja viel zu schnell vorbei gegangen.“
    „Da sagst du was“, pflichtete ihr Manfred bei, der sich gerade per herzlichem Handschlag von Holger verabschiedet hatte. „Aber so langsam müssen wir dann doch mal zuhause nach dem Rechten sehen.“
    „Macht euch da mal keinen Kopf, es wird schon noch alles stehen“, versicherte ihm Holger.
    „Und jetzt seht zu, dass ihr euren Teleport nicht verpasst.“
    „Und meldet euch!“, ergänzte Frida. „Nicht, dass das wieder ein paar Jahre dauert, bis wir uns wiedersehen.“
    „Auf keinen Fall“, versprach Manfred. „Ach ja, und das Infomaterial über den Blitzzaun schicke euch dann natürlich gleich per Post zu, wenn wir zuhause sind, wie versprochen. Kann ich euch wirklich nur ans Herz legen, das ist ein richtig prima Gerät!“
    „Ja, danke, das ist nett.“
    „Ist doch kein Problem. Macht's gut, ihr beiden!“
    „Gute Heimreise!“
    „Bis ganz bald!“
    Frida legte den Arm um Holgers Schulter und winkte ihren Freunden hinterher, als sie die Teleporthalle betraten, die um diese frühe Tageszeit schon gut besucht war. Der viele Schneefall der letzten Tage hatte dem Besucherandrang in Hammerstedt nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Urlauber aus allen Teilen der Welt tummelten sich an der Teleporthalle, die meisten von ihnen Familien mit Kindern.
    „Da sind sie wieder weg“, konstatierte Frida, als Manfred und Karlotta im Inneren des großen Gebäudes verschwunden waren. „Ich weiß ja nicht, wie's dir geht, aber ich hab jetzt auch nichts gegen ein bisschen Ruhe.“
    „Ja du“, seufzte Holger. „Noch viel häufiger muss ich das Wort Blitzzaun in meinem Leben jetzt auch nicht unbedingt hören.“
    „Wem sagst du das.“ Frida konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen. „Und dann immer Eduard hier, Eduard da. Eduard macht dies, Eduard kann das. Als ob sie da den wiedergeborenen Saturas auf die Welt gesetzt hätten. Weißt du noch, wie komisch der immer war, als wir damals bei ihnen zu Besuch waren?“
    „Ganz merkwürdiger Junge“, pflichtete ihr Holger bei. „Hat einen nie richtig angeguckt.“
    „Genau. Also auf unser Haus würde ich den nicht aufpassen lassen.“
    „Müssen wir ja auch nicht.“ Holger lächelte sie erleichtert an und gab ihr einen kleinen Kuss. „Das haben wir jetzt ja wieder ganz für uns.“
    Frida strich ihm liebevoll über die Wange, die angesichts der morgendlichen Kälte ein bisschen gerötet war.
    „Das wurde aber auch Zeit. Hoffentlich schreiben die uns nicht in ein paar Monaten an und wollen sich schon wieder mit uns treffen. Nicht dass wir am Ende nochmal zu denen nach Okara sollen.“
    „Jetzt denk doch nicht an sowas. Wir machen uns jetzt erst mal einen schönen heißen Tee, was meinst du?“
    „Klingt nach einem Plan!“
    Frida hakte sich bei ihrem Mann unter und wollte den Heimweg antreten, aber Holger blieb stehen wie angewurzelt.
    „Was ist denn…?“
    „Guck mal, die Leute da. Da ist irgendwas los.“
    Jetzt bekam sie es auch mit. Ein paar junge Männer kamen in einer irrwitzigen Geschwindigkeit aus dem Eingangsbereich der Teleporthalle gestürmt, was auch Frida mehr als ungewöhnlich vorkam. Wenn hier Leute rannten wie von der Blutfliege gestochen, dann taten sie das normalerweise in die andere Richtung, weil sie Angst hatten ihren Teleport zu verpassen. Es dauerte keine zwei Sekunden, da wurden die Eingangstüren schon wieder aufgerissen und eine ganze Familie spurtete heraus, dicht gefolgt von weiteren davon hetzenden Menschen. Plötzlich war der Vorplatz voller flüchtender Leute – eine Frau, die hektisch ihre beiden Kinder an den Händen mit sich zerrte – eine aufgescheuchte Schulklasse – ein Mann, der seinen Koffer mitten auf dem Platz stehen ließ, um noch schneller vom Gebäude wegzukommen –
    Was sie alle gemeinsam hatten, das war der Ausdruck blanken Entsetzens in ihren Gesichtern.
    Frida tastete nach Holgers Hand.
    Dann hörte sie die Schreie.

    Verblasste, blaue Linien zogen sich über Stirn und Kopfhaut des Mannes mit dem kahlgeschorenen Schädel. Seine Haut war bleich und merkwürdig wächsern, aber der Blick in seinen Augen war noch immer ganz lebendig. Er sah aus, als würde er ganz angestrengt auf irgendetwas warten, fand Vicky, als sie ihre Nase an die Scheibe der Vitrine presste.
    „Und das ist wirklich ein echter Sektentyp? Von damals?“
    „Victoria, leise!“, wies sie Frau Schöper zurecht und zerrte sie von der Vitrine weg, zurück zu den anderen aus ihrer Klasse. „Die Dame möchte hier einen Vortrag für uns halten.“
    „Nein, nein, das ist schon in Ordnung, fragt mich ruhig alles was ihr wissen wollt“, sagte die Museumsführerin und lächelte Vicky freundlich an. „Du hast ganz recht, wir haben hier ein waschechtes Mitglied der Bak-Garam-Sekte vor uns, und ich möchte betonen, dass es sich nicht etwa um eine Nachbildung handelt. Dass der Körper des Mannes so außerordentlich gut erhalten geblieben ist, das haben wir den Erkenntnissen unseres Forschungsteams zufolge der gleichen Form okkulter Magie zu verdanken, die auch vor bald dreihundert Jahren für den Einfall der untoten Orks verantwortlich war. Wie ihr vielleicht schon im Unterricht gehört habt, sind damals schätzungsweise zwei Drittel der Weltbevölkerung umgekommen, bevor die Untoten bezwungen werden konnten. Dass sich zu dieser Zeit gerade ein weitläufiges Netz aus Teleportern etabliert hatte, stellte sich dabei als ein äußerst unglücklicher Zufall der Geschichte heraus, denn so waren die Orks bereits in allen Städten, bevor die Menschen wussten, wie ihnen geschah. Ein schreckliches Schicksal, zweifellos.“
    „Ja genau“, bestätigte Niklas begeistert. „Das hab ich in Zombie Terror 4 gesehen, voll übel!“
    Das war ja wieder klar, dachte Vicky genervt. Niklas musste natürlich sogar im Museum damit angeben, dass ihn sein älterer Bruder immer irgendwelchen fiesen Metzelkram mitgucken ließ. Die Museumsführerin ließ sich davon aber nicht beeindrucken.
    „Dann erkennst du bestimmt auch das hier, oder?“
    Sie deutete auf eine kleinere Vitrine. Vicky konnte einen schmuddelig wirkenden Stoffhandschuh darin erkennen, an dem ein alter, gelblicher Schlauch mit abgerissenem Ende befestigt war.
    „Woah, ein Runenhandschuh!“, staunte Niklas und grabschte mit seinen fettigen Salamifingern an der Vitrinenscheibe herum. „Mit dem wurden damals echte Zombies abgeknallt, oder?“
    „Davon kannst du ausgehen“, versicherte ihm die Museumsführerin mit einem Zwinkern. „Aber trotz dieser durchaus fortschrittlichen Bewaffnung hätte nicht viel gefehlt, um die Menschheit zur damaligen Zeit voll und ganz auszulöschen. Wenn das passiert wäre, dann würden wir hier alle heute nicht beisammen stehen. Schätzungen zufolge hätte die Anzahl der Untoten nur etwa vierzig Prozent höher ausfallen müssen, um neunundneunzig Prozent allen menschlichen Lebens auf dem Festland auszurotten.“
    Vicky ließ den Blick über die Glasvitrinen schweifen. Da waren alte Äxte und Schwerter, eine vergilbte handgezeichnete Landkarte und gleich neben ihr ein merkwürdiger dunkelgrauer Stein, der ein komisches Kribbeln in ihr auslöste, wenn sie ihn zu lange anguckte.
    „Frau… öhm…“ Sie suchte nach einem Namensschildchen an der Bluse der Geschichtsexpertin, aber es gab keines. „… Frau Museumsführerin?“
    Die ältere Frau mit den langen grauen Haaren nickte ihr schmunzelnd zu. „Du kannst mich Martina nennen.“
    „Ich hab nur überlegt…“, begann Vicky. Plötzlich fühlte sie sich irgendwie unbehaglich und wünschte sich, nichts gesagt zu haben.
    „Ja?“, munterte sie die freundliche Frau auf. „Frag ruhig.“
    „Also…“ Vicky hatte einen ganz schönen Kloß im Hals. Die anderen mussten sie für eine blöde Angstwanze halten, aber jetzt konnte sie auch keinen Rückzieher mehr machen und musste die Frage stellen. „Liegen da irgendwo… noch mehr tote Orks im Boden? Also, könnte das irgendwie nochmal passieren? Könnte dieser Dämonenzauber nochmal, öhm, irgendwie… angeschaltet werden?“
    „Eine sehr gute Frage stellst du da.“
    Die Frau beugte sich zu ihr herunter und schaute sie ganz begeistert an. Ihre Augen hatten auf einmal richtig zu leuchten begonnen.
    „So ein Dämonenzauber ist äußerst hartnäckig“, sagte sie mit einem Lächeln. „Und irgendwann bricht jeder Widerstand. Es ist durchaus nicht auszuschließen, dass die Orks eines Tages erneut an die Oberfläche gelangen werden. Dass sie die Welt der Menschen ein weiteres Mal in Scharen heimsuchen werden.“
    Vicky hielt den Atem an, als ihr die Frau plötzlich ganz nahe kam und ihr etwas ins Ohr flüsterte.
    „Unter uns gesagt… ich rechne sogar ganz fest damit.“
    Geändert von Laidoridas (12.11.2023 um 11:18 Uhr)

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