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    [Story]Danke für alles

    Eine

    [Bild: 688.png]

    Geschichte


    Danke für alles



    Für einen Moment flog sie.
    Davon hatte sie immer geträumt. Sie spürte den Wind auf ihren Wangen, und den Salzgeruch, es rauschte in ihren Ohren und sie spürte, wie sich ihr Mund zu einem Lachen verzerrte. Dann endete ihr Flug abrupt, sie kam auf dem Wasser auf, und es tat weh, aber sofort wurde sie von so eisiger Kälte umschlossen, dass sie den Schmerz vergaß. Das Wasser presste ihr das letzte Restchen Luft aus den Lungen, um sie herum war alles dunkel, sie hatte keine Ahnung, wo oben und wo unten war, in welche Richtung sie schwimmen musste, um an die Oberfläche zu gelangen. Sie versuchte zu schreien, doch schluckte dabei nur Wasser, sie hustete, aber das ging unter Wasser nicht. Ihr dunkelgrünes Reisekleid saugte sich gierig mit Salzwasser voll und zerrte an ihr. Das Gewicht der Schatulle, die sie umklammerte, war ihr beim Absprung tröstlich erschienen, doch nun hing es an ihr wie eine Kugel aus Blei. Die Schatulle, ihr ein und alles, entglitt ihren Händen. Ihre Hände… Sie konnte in der Dunkelheit die weißen Schemen ihrer Hände sehen, trüb und verzerrt, die wie aufgeregte Vögel durch das Wasser flatterten. Am Rande ihres Bewusstseins nahm sie andere Körper wahr, die auf dem Wasser aufschlugen und versanken, aber sie konnte kaum etwas sehen, so dunkel war es. Ihre Augen brannten vom Salz und schienen völlig nutzlos zu sein, doch dann sah sie plötzlich pulsierende helle Lichter, die sich spiralförmig drehten, nach oben und unten schwammen.
    Mit einem Mal kam ihr die Idee, dass sie sterben könnte, hier und jetzt, ohne dass einer der Götter eingriff. Sie würde nicht mehr an die Oberfläche finden und ertrinken und niemand würde es je erfahren, weil ihre Gebeine auf dem Meeresgrund vermoderten, nachdem die Fische ihr das tote Fleisch von den Knochen gefressen hatten.
    „Nein“, schrie sie, aber die Laute drangen nur dumpf aus ihrem Mund. Meerwasser strömte hinein und sein metallischer Geschmack füllte ihren ganzen Kopf aus.
    Sie wollte nicht sterben. Nicht so. Dafür hatte sie nicht alles aufgegeben, um von einem verbrecherischen Schleuserkapitän gezwungen zu werden, vor der Küste von Deck zu gehen und zu ersaufen wie ein Katzenjunges, für das keiner Verwendung hatte. So starb Vrazka einfach nicht, nicht so.
    Denk nach, Vrazka!
    Sie musste sich doch bloß orientieren. Es gab nur zwei Möglichkeiten, oben oder unten, Leben oder Tod. Sie hatte schon schlechtere Chancen gehabt und überlebt. Es war dunkel um sie herum, so finster. Wieder pulsierten Lichter vor ihren Augen, rot und violett. Sie hatte nie gerne alles auf eine Karte gesetzt, sie, die schlaue Vrazka, und so war ihr Hals nie in der Schlinge gelandet. Aber jetzt musste sie es tun. Oben oder unten? Blindlings schwamm sie los, in die Dunkelheit hinein, vielleicht auf die Oberfläche zu, vielleicht aber auch auf den Meeresgrund, wo die seltsamsten Wesen lauern sollten, augenlose bleiche Geschöpfe mit gewaltigen Kiefern und messerscharfen Fangzähnen, die…
    Plötzlich stieß ihr Kopf durch die Wasseroberfläche, und hätte ihr Körper nicht völlig selbstständig auf dieses Ereignis reagiert, wäre sie gar nicht auf die Idee gekommen zu atmen. Sie hustete, keuchte, sog krampfhaft Luft ein, die aber nicht anzukommen schien, hustete noch mehr, und mit einem Mal füllte süße Luft ihre Lungen.
    Sie sah eine Bewegung. Einer ihrer Schicksalsgenossen, die dieser verfluchte Verbrecher Beckett über Bord geworfen hatte, als wären sie nur Ratten. Vrazka konnte ein wenig schwimmen, aber ihre Kräfte waren vollkommen erschöpft. Ihre Arme waren schwer, so eiskalt und schwer, die Muskeln in ihren Waden krampften sich zusammen.
    „Hilfe!“, rief sie. Sie hoffte, dass derjenige, der ein paar Meter vor ihr in der Dunkelheit schwamm, sie hörte. Es waren einige kräftige junge Männer an Bord gewesen, Flüchtlinge aus Londram, und auch wenn ihre Schatulle verloren war, hatte die gute alte Vrazka noch einiges anzubieten, was ihre Rettung lohnenswert machte. Vielleicht war es sogar der junge Kerl, der ihr die Schatulle wiederbeschafft hatte. Der würde sie doch nicht einfach ertrinken lassen, oder?
    Die Bewegung vor ihr kam zum Stillstand, er musste sie gehört haben.
    „Hilfe!“, keuchte sie wieder, und wieder verkrampfte sich ihr Körper. Diesmal nicht nur die Waden, sondern auch ihr Brustkorb. Sie bekam kaum noch Luft. Ihre Kehle war so eng.
    Er kam auf sie zu gepaddelt, doch als die Bewegung näherkam, wurde Vrazka klar, dass sie sich getäuscht hatte.
    Es war keine menschliche Bewegung.
    „Hilfe“, flüsterte Vrazka, doch es war kein menschliches Ohr in der Nähe, das sie hörte.
    Das letzte, was sie wahrnahm, war der schale Geschmack von Meerwasser in ihrem Mund. Dann war alles dunkel.

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    An dem Tag, als Martha das Plakat zum ersten Mal sah, brach die Kapelle am Friedhof von Silbach endgültig zusammen. Das kleine, aus rohen Steinen gemauerte Gebäude war alt gewesen, zugegeben, aber nicht baufällig. Wenn man es genau nahm, war alles in diesem Dorf in die Jahre gekommen, aber bisher hatte alles der Zeit tapfer standgehalten. Hier und da brachen Latten aus den Palisaden, die Silbach umgaben, um es vor Wölfen und diesen scheußlichen Feldräubern zu beschützen, die immer größer und aggressiver geworden waren in den letzten Jahren, aber das passierte eben, wenn der Zahn der Zeit an einem Zaun nagte. Außerdem gab es andere Probleme auf der Insel: Die Jäger klagten über immer weniger Wild, und Martha hatte gehört, dass sich die Gase, die in den Südlichen Marschen aus dem Boden traten, immer wieder entzündeten und Schwelbrände in den Sümpfen verursachten. Nicht, dass sie das bedauert hätte. Dort lebten ohnehin nur Huren und Halunken, und wenn es nach Martha gegangen wäre, hätten die Marschen jederzeit gerne abbrennen können. Aber insgesamt war es beunruhigend, und nun war auch noch die Kapelle eingestürzt.
    Martha führte das beste und einzige Gasthaus in Silbach, das Molerat, und dort sah und hörte sie eine ganze Menge, während sie den Gästen ihren Eintopf auftischte und zusah, wie Bastian, ihr Waschlappen von Wirt, Bier ausschenkte. In letzter Zeit kamen weniger Gäste – die Zahl der Einheimischen, die im Molerat aßen und vor allem tranken, war weitgehend gleich geblieben, aber es kamen weniger Auswärtige -, aber die Klagen wurden mehr: Das Wetter war trüber als sonst, die Feldfrüchte wuchsen widerwillig, als müsste man sie der Erde mit Gewalt abpressen, irgendwo war angeblich ein Lamm ohne Kopf geboren worden.
    Martha fragte sich gerade, ob es auch in der Stadt bergab ging, als sie auf das Plakat aufmerksam wurde, das an der Anschlagstafel hing. Gestern Abend war es noch nicht dort gewesen, da war sie sich ganz sicher. Martha war stets bestens informiert über alles, was in Silbach geschah, und neben dem wöchentlichen Damenkränzchen bei Albyns Frau und dem Canastaabend mit Finja waren die Anschlagstafeln Marthas beste Informationsquelle. Zuerst war Martha aufgefallen, dass die Anschlagstafel ein wenig schief stand, so als wäre einer der Pfosten, an denen die angebracht war, tiefer in die Erde gesunken. Dann sah sie den neuen Zettel, der die Größe einer Buchseite hatte. Eine Frau lächelte vom Papier hinab, die Martha noch nie gesehen hatte. Sie war hübsch, aber schon etwas verblüht, dennoch musste Martha zugeben, dass diese Frau etwas hatte. Auf der Zeichnung trug sie ein dunkelgrünes Kleid, das einen interessanten Kontrast zu ihrem rotblonden Haar bildete.
    „Danke Vrazka, für alles“ war in ungelenker Handschrift daruntergeschrieben.
    Vrazka? Den Namen hatte Martha noch nie gehört. Er klang irgendwie exotisch.
    Sie betrachtete das Bild genauer. Es war erstaunlich detailliert gezeichnet, sogar das Netz feiner Fältchen um die hellgrünen Augen dieser Vrazka war zu erkennen. Martha schätzte die Frau auf etwa vierzig Jahre. Wäre sie aus Silbach oder der Umgebung, hätte Martha sie kennen müssen, schließlich kannte sie alle Frauen – und Männer –, die in etwa ihr Alter hatten. Ob sie aus der Stadt war? Aber warum hing ihr Konterfei dann in Silbach, und wofür dankte man ihr? Martha riss den Zettel ab und drehte ihn um, ob auf der Rückseite nähere Erklärungen zu finden waren. Nichts.
    Martha überlegte, ob sie den Zettel wieder an die Tafel hängen sollte, als auch der zweite Pfosten einknickte und die ganze Anschlagtafel wieder in Schieflage geriet, diesmal in die andere Richtung.
    „Alles marode hier“, murmelte Martha verdrossen, sah auf das Blatt mit der lächelnden Vrazka darauf und zerknüllte es in ihrer Hand. „Danke für nichts... Vrazka!“

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    Bodowin, der königliche Alchimist der Insel Archolos, beugte sich über die Frau, die die Fischer an Land gezogen hatten. Ihr Gesicht war sehr bleich, ihre Lippen vom Meerwasser wund, ihr rotblondes Haar klebrig und verknotet. Alles in allem war sie ziemlich am Ende, aber sie lebte noch, daran bestand kein Zweifel. Ihr Atem kam röchelnd und blubbernd über die aufgesprungenen Lippen.
    Bodowin zog eines ihrer Augenlider nach oben und besah sich die Pupille, dann wiederholte er diesen Vorgang am anderen Auge. Die Pupillen waren unterschiedlich groß.
    Er trat einen Schritt zurück und besah sich die Frau. Sie war mittleren Alters, bestimmt war sie immer noch eine Schönheit gewesen, als sie über Bord gegangen war. Bodowin hatte ihr grünes Kleid, das noch feucht und sandig war, sorgfältig über das Skelett gehängt, das ihm für seine anatomischen Forschungen diente. Am Bein der Frau war eine hässliche Bisswunde zu erkennen, wahrscheinlich von einem kleinen Strandhai, aber das war ihr geringstes Problem.
    Bodowin glaubte, in ihren schlaffen Gesichtszügen noch die Spuren eines scharfen Verstandes und einer füchsischen Schläue zu erkennen, doch damit war es ein für alle Mal vorbei. Wer zu lange unter Wasser blieb, dessen Verstand war nicht mehr der eines Fuchses, sondern bestenfalls noch der einer Wasserschnecke, und selbst die nahmen sich als wahre Intelligenzbestien aus gegenüber Menschen, deren Gehirn zu lange keine Luft bekommen hatte.
    Trotzdem war die Frau ein wahrer Segen, jetzt, wo sein Vorgänger im Amte leider verschieden war.

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    Als Martha am frühen Morgen die Stube auswischte – je später die Stunde, desto mehr glichen sich die Silbacher Bauern ihren Schweinen an -, klopfte es an die Tür des Molerat. Am Abend zuvor war das Dach an zwei Stellen eingebrochen, und Martha hatte nach einem Handwerker geschickt.
    „Hallo? Jemand da?“, rief es von draußen.
    „Komme ja schon“, knurrte Martha. Es fiel ihr heute schwer, aufzustehen, und ihre Knie knackten wie trockene Äste im Feuer. „Immer langsam!“
    Es klopfte wieder, ungeduldig und fordernd.
    So nicht, Bürschchen, dachte Martha. Dir werde ich erst einmal deinen verlausten Zimmermannskopf waschen, und dann wirst du in deinem ganzen Leben keine Wirtsfrau mehr hetzen.
    Sie schob den Riegel zurück, der sich nur mit Mühe und unter lautem Quietschen bewegen ließ, dabei hatte sie ihn doch erst vor zwei Jahren einsetzen lassen, nachdem dieser Idiot Rik…
    Der Mann vor der Tür war kein Handwerker. Es war ein Bote der Händlergilde Araxos. Vor Verblüffung hatte sie die Standpauke ganz vergessen, die ihre gefürchtete Zunge bereits mit Dornen und Glasscherben versehen hatte. Die Araxos-Läufer liefen doch seit Wochen nicht mehr.
    Martha erinnerte sich, dass der ganze Schlamassel mit dem Tag so richtig in Schwung gekommen war, an dem sie das Bild dieser Vrazka von der Anschlagtafel gerissen hatte. Seitdem war die Hälfte aller Schafe an neuartigen Seuchen verendet, die berühmten Weinreben auf den Hängen von Archolos verfaulten, anstatt pralle Trauben zu tragen, sogar der Himmel schien trüber als sonst zu dieser Jahreszeit. Die Mine der Händlergilde war an einigen Stellen eingestürzt, und Araxos hatte darauf reagiert, indem sie ihre Läuferorganisation von den meisten Strecken abgezogen hatte.
    Alles schien ins Wanken geraten zu sein auf dieser verdammten Insel. Und immer wieder tauchte das lächelnde Gesichts Vrazkas auf, Danke für alles, Vrazka!, auf Flugblättern und Aushängen. Bastian hatte erzählt, dass jemand Vrazkas riesiges Portät auf eine verlassene Scheune gemalt hatte, Danke für alles!, aber niemand, den sie danach gefragt hatte, wusste, um wen es sich dabei handelte. Keiner hatte den exotischen Namen je zuvor gehört, niemand kannte das Gesicht. Dabei musste sie verdammt wichtig für diese Insel sein, wenn ihr überall so überschwänglich gedankt wurde.
    „Ich habe eine Nachricht für Martha“, sagte der Läufer.
    „Steht vor dir“, brachte sie heraus. Ihre Stimme klang viel zu dünn.
    Er drückte ihr einen zusammengerollten und versiegelten Brief in die Hand. „Vom königlichen Admiral Lutz. Sonderauftrag. Wir laufen eigentlich nicht mehr.“
    Er blieb in der Tür stehen, und Martha war völlig klar, weshalb. Der Läufer erwartete ein Trinkgeld oder zumindest ein Bier, aber da kannte er Martha schlecht.
    „Willst du noch meine Treppe wischen?“, fragte sie und hielt ihm auffordernd den Putzlumpen hin, den sie noch in der Hand hielt.
    Der Bote ergriff ohne ein weiteres Wort die Flucht, und Martha zog mit einiger Kraftanstrengung die Tür zu. Splitter lösten sich aus dem Holz und rieselten auf den Boden.
    Lutz.
    Allein der Name versetzte ihr Herz in Aufruhr, und es war unmöglich zu sagen, ob das ein gutes oder abscheuliches Gefühl war.
    Lutz war ein Mistkerl, ganz klar, der ihr die Ehe in Aussicht gestellt hatte, um dann kalte Füße zu kriegen und eines Nachts einfach abzuhauen, und zwar mit ihren Ersparnissen. Eine heiße Welle der Wut brandete auf, als sie an ihre schönen einhundert Goldstücke dachte, die sie so sauer zusammengespart hatte. War Lutz etwa wieder auf Archolos? Wie konnte dieser verdammte Lügner es wagen, ihr einen Brief zu schreiben? Wie konnte er?
    Weil er dich immer noch liebt, Martha, flüsterte eine leise Stimme in ihr. So wie du ihn.
    „So ein Quatsch“, murmelte sie und schob den Gedanken schnell beiseite. Lutz würde in irgendeiner Patsche sitzen und um Hilfe winseln, und nur deshalb war sie gewillt, seine Nachricht zu lesen.
    Um zu sehen, wie tief er noch gesunken war.
    Energisch brach sie das Siegel.
    „Meine liebe Martha, ich weiß, was du von mir denkst, und du hast recht mit allem! Worte können nicht ausdrücken, wie schäbig ich mich fühle und wie sehr mein Verhalten zu verurteilen ist.“
    Martha lächelte grimmig. Oh ja, da hatte er verdammt recht.
    „Martha, es ist nicht die Zeit, dir alles genau zu erklären, denn etwas geht hier vor. Ich bin mit der Flotte wieder auf Archolos, und die ganze Insel geht vor die Hunde. Ich werde mich mit einem Schiff aus Festland absetzen, und ich möchte, dass du mitkommst. Ich habe Gerüchte gehört, dass Teile der Südlichen Inseln im Ozean versunken sind, aber ich glaube, dass es auf dem Festland noch sicher sein könnte. Ich bitte dich, Martha: Triff mich so bald wie möglich in Archolos! In alter Liebe, dein Lutz“
    Es folgte die Adresse des Gasthofs, in dem er abgestiegen war. Eine ziemlich gute Adresse.
    „Kein Wunder“, knurrte Martha, „wenn ich hundert Goldstücke hätte, würde ich auch dort wohnen.“
    Doch die Worte kamen nicht so sarkastisch über ihre Lippen, wie sie es erwartet hatte. In der leeren Schankstube klangen sie sogar ziemlich dünn.
    Etwas geht hier vor.
    Das war ihr nicht entgangen.
    Die ganze Insel geht vor die Hunde.
    Martha sah, wie sich ihre Hand um Lutz‘ Nachricht krampfte. Plötzlich verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen und Martha biss sich auf die Lippen. Alles ging vor die Hunde. Da half es nichts, wenn sie heulte. Sie würde auch vor die Hunde gehen.
    „Danke für alles, Vrazka“, zischte sie in den leeren Raum, und es klang genauso giftig, wie sie es sich gewünscht hatte.
    Mechanisch fuhr sie fort, die Stube zu putzen, aber sie konnte Lutz‘ Worte nicht einfach so aus ihrem Geist wischen wie die Schmutzflecken von den Treppenstufen.
    Auf dem Festland könnte es noch sicher sein.
    Lutz war verrückt geworden, so musste es sein. Er hatte sich mit zu viel billigem Schnaps das Hirn weichgesoffen, so dass es löchrig wie ein Schwamm geworden war. Die Südlichen Inseln im Ozean versunken, das war doch unmöglich. Inseln waren keine Fischerboote, die konnten nicht sinken, oder?
    Um sich abzulenken, ging Martha in die Küche, um ihren Eintopf aufzusetzen. Sie suchte die Zutaten zusammen – die je nach Saison und Verfügbarkeit variierten -, und zuckte zurück, als sie in den Korb mit den Rüben fasste. Ihre Hand umschloss etwas Schleimiges, was zwischen ihren Fingern zerfloss. Ein gasiger Geruch wallte aus dem Korb auf, als sie ihre Hand herauszog. Faulige Rübenreste klebten daran, braun und schwarz und stinkend. Angewidert wischte sie ihre Hand an der Schürze ab. Sie hatte den Korb doch erst vor zwei Tagen gründlich ausgewischt und frische Rüben bei Finja gekauft. Wie hatte sie dieses faulige Ding übersehen können? Sie zog das weiße Tuch, das zum Schutz des Gemüses vor Insektenfraß diente, von dem Korb. Der Anblick ließ sie leise aufschreien.
    Die Rüben, die sich im Korb befanden, waren allesamt verdorben. Einige waren nur verschrumpelt wie Nacktschnecken auf dem Hof, die es nach einem Sommerregen nicht geschafft hatten, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, bevor die Sonne wieder herauskam, und auf den Steinplatten zusammenschrumpften. Andere waren schon im Zustand der Verwesung und zerflossen wie alter Käse, über wieder andere zog sich ein bläulich schimmernder Schimmelrasen.
    Schnell schlug Martha das Tuch wieder über dieses Panorama des Verfalls. Sie würde Finja den ganzen Korb mit den minderwertigen Rüben vor die Füße werfen!
    Du hast dir die Rüben selbst ausgesucht, flüsterte die Stimme wieder. Du hast sie einzeln ausgesucht und genau angeschaut, und sie waren tadellos.
    „Alles geht vor die Hunde“, flüsterte sie, und nun konnte sie nichts dagegen tun, dass ihr eine Träne über die Wange rollte. „Meine armen, armen Rüben.“
    Kurz darauf hatte sie sich wieder im Griff und auch die übrigen Vorräte überprüft. Es war ein Bild des Jammers gewesen. Verfaulte Zwiebeln, schimmlige Kürbisse, sogar die Speckschwarte in der Kühlkammer schillerte in unappetitlichem Grün. Sollten die Bauern heute doch Brot und Schafswurst essen, ohne Rüben und Kürbis ließ sich nun mal kein Eintopf kochen. Sie hatte mit Lutz zu reden, selbst wenn es nur dazu diente, ihre Verwirrung in Wut zu kanalisieren. Mit Wut konnte sie umgehen, da bewegte sie sich auf sicherem Boden. Verwirrung brachte nur Tränen, Tränen machten sie hilflos, und nichts hasste sie mehr, als sich hilflos zu fühlen.
    Sie kritzelte eine Botschaft für Bastian, ihren Schankwirt, auf ein Stück Papier und legte es auf den Tisch gleich neben der Tür. Sie habe etwas Wichtiges in der Stadt zu erledigen, Bastian solle bloß die Finger vom Herd lassen und ihren Gästen nur kalte Küche servieren. Paola würde am Nachmittag Brot liefern. Sie las ihre Nachricht noch einmal durch, fand sie ein wenig harsch und setzte noch ein versöhnliches „Deine Martha“ darunter. Martha trat aus der Tür des Molerat und blinzelte in den weißen, verhangenen Himmel. Bastian war eine gute alte Haut, vielleicht ein wenig geschwätzig und außergewöhnlich langsam, aber ein verlässlicher Kerl.
    Ganz im Gegensatz zu Lutz.
    Lutz hatte immer schneidig ausgesehen, war schnell mit den Worten und mit dem Degen, und…
    „Was soll denn das?“, rief Martha aus, als sie auf den Sandplatz gegenüber ihrem Gasthaus blickte, auf dem Paulus, einer der Dorfbewohner, in den Morgen- und Abendstunden trainierte. In den Sand, vier auf vier Meter, hatte jemand das lächelnde Porträt einer Frau gezeichnet.
    „Vrazka!“ entfuhr es Martha.
    „Danke für alles“, sagte Paulus mit schiefem Grinsen. Er stand vor der Bäckerei und betrachtete das Bild ebenfalls.
    „Warst du das?“, fragte Martha. Verwirrung und Ärger stiegen in ihr auf.
    „Nein, und vor ein paar Minuten war es auch noch nicht da“, erwiderte Paulus.
    „Wer ist denn diese Vrazka überhaupt?“, fuhr Martha ihren Nachbarn an, als hätte er ihre Frage bejaht.
    „Ich habe keine Ahnung, ich habe doch gesagt, dass ich nichts damit zu tun habe“, verteidigte sich Paulus.
    Martha sah dem riesigen Gesicht im Sand direkt in die Augen. „Wer, bei Beliar, bist du, Mädchen?“, murmelte sie. „Und warum bist du so wichtig?“
    Als hätte ihr Atem einen Windstoß ausgelöst, begannen die Sandkörner zu verwirbeln, in kleinen Spiralen zu tanzen, so dass Vrazkas lächelndes Portät erst unscharf wurde und dann völlig verschwand. Weniger Augenblicke später sah man keine Spur mehr davon auf dem Sandplatz.
    „Diese Insel geht vor die Hunde“, sagte Martha zu Paulus.
    Der nickte. „Wir alle gehen vor die Hunde.“
    Vom verhangenen Himmel begannen einzelne Tropfen zu fallen, die schwer auf den unbefestigten Wegen von Silbach aufschlugen. Wann hatte Martha zuletzt einen makellos blauen Himmel gesehen? Vor zwei Wochen? Vor einem Monat? Meistens war es bewölkt, es gab jede Menge Regen, mal als Nieseln, mal als Wolkenbruch. Wenn sich die Wolken doch einmal verzogen, dann blieb der Himmel trüb, vielleicht von den Bränden in den Südlichen Marschen, die Tag um Tag mehr Land verwüsteten.
    Martha verließ Silbach durch das Nordtor, Richtung Stadt. Das Laub der Bäume hatte sich gelblich verfärbt, was ziemlich ungesund aussah, wenn man bedachte, dass es Frühsommer war. Ein hellbrauner schleimiger Pilz wucherte weitläufig auf dem niederen Gesträuch und bedeckte es mir einer fettig glänzenden Schicht.
    Hexenbutter, dachte Martha.
    Man konnte ein paar Vögel trostlos tschilpen hören, und aus der Ferne sah Martha eine Gruppe gedrungener Feldräuber äsen – die zu bekämpfen sich offenbar niemand mehr die Mühe machte, danke, Vrazka! -, aber ansonsten waren keine Tiere zu sehen. Martha sog tief Luft ein und atmete dann stoßweise aus. Sogar die Waldluft schien schal zu schmecken, wie Eintopf, der zu lange gestanden hatte.
    Nach einer Weile hörte Martha jemanden ein melancholisches Lied pfeifen, jemanden, der in einem der Gesträuche hockte. Sie ballte die Fäuste und reckte das Kinn vor. Sie hatte nicht vor, sich von einem Banditen ausplündern zu lassen, im Gegenteil. Sie hatte richtig Lust, jemandem das Fell über die Ohren zu ziehen, wenn der ihr dumm kommen sollte.
    Gerade als sie noch darüber nachdachte, ob sie das Gebüsch mit einer energischen Handbewegung teilen und den Urheber des Pfeifens enttarnen sollte, trat er selber zwischen den Zweigen hervor. Es war Terry, ein fahrender Sänger, der sich, immer noch pfeifend, die Hose zuknöpfte. Er sah Martha und erstarrte, das Pfeifen erstarb und hallte noch einen winzigen Augenblick zwischen den Bäumen wider.
    „Innos, hast du mich erschreckt!“, keuchte er.
    Martha entspannte sich. Das Gefährlichste an Terry war die große Brotdose aus Edelstahl, die an seinem Gürtel baumelte. Sie brachte sogar ein Grinsen zustande.
    „Danke für alles“, sagte sie, und Terry lachte auf. Er trug eine kurze Khakihose und ein recht hochwertiges Lederwams, wie sie feststellte. Es war immer noch früh am Tag, aber der Musikant sah abgespannt und müde aus, so als wäre sein langer Arbeitstag zu Ende gegangen statt erst anzufangen.
    „Ich bin auf dem Weg in die Stadt“, fuhr Martha fort. „Du kommst doch viel herum. Weißt du, ob es…“ – sie wedelte mit beiden Händen in der Luft herum – „…irgendwelche Probleme gibt?“
    „Du meinst allgemein, oder zusätzlich zu den Problemen, die sich in den letzten Wochen aufgetan haben?“, fragte Terry.
    Martha stieß schnaubend die Luft aus. „Ist der Weg frei, oder muss einen Umweg über die Goldmine nehmen?“
    „Das wäre nicht empfehlenswert“, sagte Terry und grinste ein wenig. Martha kam es allerdings nicht wie ein fröhliches Grinsen vor. Terrys Gesicht war bleich, seine Augen groß und dunkel.
    „Treiben sich dort noch mehr Banditen herum als sonst?“, fragte sie.
    „Nein, das ganz bestimmt nicht. Vermutlich sogar kein einziger“, erwiderte er. „Es ist... es hat sich dort so etwas wie ein Krater aufgetan, letzte Nacht. Ich habe es heute Morgen selbst gesehen.“
    Das Grinsen war vollständig von Terrys Gesicht gewichen. Er sah nun aus wie ein verängstigter kleiner Junge.
    „Wie bitte? Ein Krater vor der Miene? Du meinst einen weiteren Einbruch?“ Martha hörte selbst, wie harsch und ungehalten ihre Stimme klang. Aber wenn man der Katastrophe nicht einmal mehr Ärger entgegensetzen konnte, dann war man verloren, oder?
    „Nein. Ein Krater statt der Mine“, sagte Terry. „Es gibt keine Mine mehr.“
    „Das ist doch Unsinn“, wollte Martha den Bänkelsänger zurechtweisen, der ganz offenbar den Verstand verloren hatte, doch die Worte kamen ihr nur als heiseres Flüstern über die Lippen.
    „Was ist denn mit den Leuten, die das Gold bewacht haben?“
    Terry zuckte die Schultern, keine Geste des Trotzes, sondern der Hilflosigkeit. „Die sind wohl auch weg.“
    „Die ganze Insel geht vor die Hunde“, murmelte Martha. Dort, wo sie Entsetzen, Schock und Trauer hätte empfinden sollen, spürte sie nur betäubte Betroffenheit.
    Sie spürte, wie ein leichter Wind aufkam und sie frösteln ließ.
    „Das mit dem Kloster hast du schon gehört?“, fragte Terry.
    Martha schüttelte verwirrt den Kopf. Die Brücke zum Kloster war zusammengebrochen, das wusste sie, aber das war schon eine ganze Weile her, das wusste jeder.
    „Der Felsen, auf dem das Kloster stand, ist gestern eingestürzt. Das ganze Gebäude ist im Meer versunken. Die Magier haben sich, soweit ich weiß, rechtzeitig da herausgezaubert, bevor es bergab ging.“
    „Jeden Morgen, wenn die Sonne wieder scheint, ist es Magie, die an die Tür klopft“, sagte Martha leise.
    Terry sah sie einen Moment lang verwundert an. Dann lächelte er - schwach, aber echt - und sang mit seiner schönen klaren Stimme den darauffolgenden Vers: „Ihre allgegenwärtige Kraft umgibt uns noch immer, wenn die Sonne auf uns scheint.“
    „Ich habe dir immer gern zugehört“, sagte Martha, bevor sie es verhindern konnte. Sie war sonst nicht geneigt, anlasslos Freundlichkeiten von sich zu geben, aber diese ganze Trostlosigkeit machte sie mürbe. Und darüber hinaus war es die Wahrheit. Sie lehnte sich gegen einen der Bäume, weil sie sich auf einmal sehr, sehr müde fühlte. Dabei fiel ihr Blick auf die Buche, die ihr gegenüberstand und sich in den Himmel reckte, als wäre nichts geschehen. In die glatte Rinde hatte jemand etwas eingeritzt. Sie kniff die Augen zusammen, um es besser entziffern zu können. Terry folgte ihrem Blick.
    „Danke, Vrazka, für alles“, las er vor.
    „Das kann doch nicht wahr sein!“, rief Martha aus.
    Terry ging um die Buche herum.
    „Hier hat jemand ihr Gesicht eingeritzt“, hörte sie ihn sagen.
    Wieder fröstelte sie. Was hatte es nur auf sich mit dieser Vrazka? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, und das machte Martha wütend. Eines aber wusste sie genau: Wenn sie diese Person traf – und es schien ihr mit einem Mal unausweichlich, dass das geschehen würde -, dann würde sie ihr die Meinung sagen. Was sollte das alles? Wieso ließ sie sie nicht einfach in Ruhe? Sie schloss die Augen.
    „Wann hat das alles eigentlich angefangen?“, hörte sie Terry fragen. „Ich meine, dieses ganze Unglück?“
    „Als ich das erste Flugblatt abgerissen habe“, antwortete sie tonlos.

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    Bodowin flößte der bewusstlosen Frau ein wenig Wasser ein, ganz behutsam, denn es durfte keinesfalls in die Lungen gelangen. Er stützte sanft ihren Kopf, benetzte ihre trockene Zunge mit ein paar Tropfen, bis der Schlickreflex einsetzte. Es war eine mühselige Arbeit, sie am Leben zu erhalten, aber das war es wert. Die bisherigen Ergebnisse waren vielversprechend.
    „Bist du Bodowin?“, riss ihn eine Stimme aus seinen Überlegungen.
    „Wer soll ich denn sonst sein?“, gab Bodowin zurück. Eine solche Frage grenzte bereits an Majestätsbeleidigung oder wies den Fragesteller als einen besonders beschränkten Mitmenschen aus. Letzteres könnte allerdings nützlich sein.
    Ein junger Mann stand vor ihm, den Bodowin noch nie gesehen hatte. Von hier stammte er bestimmt nicht, das konnte man an seiner Frisur und seiner Kleidung erkennen, beides recht ungepflegt, mit einem Hauch von Fremdheit.
    Bodowin ließ den Kopf der Frau, deren Atem so gleichmäßig ging, als würde sie nur schlafen, behutsam auf das Kissen sinken. Er wusste, dass sie sich irgendwo weiter unten befand, viel weiter unten, tiefer als der tiefste Grund des Meeres, das sie nun in sich trug und nie mehr verlassen würde. Dann wandte er sich wieder dem jungen Mann zu.
    „Was ist denn?“
    Der Blick des jungen Mannes fiel auf die Frau, und Bodowin sah Erkennen und Entsetzen in seiner Miene.
    „Du kennst sie?“, fragte er, und der Junge nickte beklommen.
    „Wir waren zusammen auf einem Schiff, das uns nach Archolos bringen sollte. Sie heißt Vrazka. Der Mistkerl von Kapitän, der hat uns über Bord springen lassen, noch bevor wir die Küste erreicht hatten. Und er hat dabei gelacht.“ Das Gesicht des Jungen verdüsterte sich. „Dafür wird er bezahlen.“
    „So geht es eben zu auf der Welt“, sagte Bodowin ungeduldig. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ihn die flammende Rechtschaffenheit des Jungen wahrscheinlich amüsiert, aber jetzt hatte er für Amüsement dieser Art keine Zeit. „Was willst du von mir?“
    „Ich brauche… vielmehr, mein Bruder braucht Hilfe.“
    „Soso, der also auch.“ Bodowin stieß einen tiefen Seufzer aus, der das Gewicht der Bürde, die ihm sein Amt auferlegte, seiner Meinung nach angemessen ausdrückte. Nie kam er dazu, in Ruhe zu forschen, ständig musste er sich um die Wehwehchen der Insulaner kümmern, und nun auch noch um die dieser Flüchtlinge.
    „Jorn wurde von einer Blutfliege gestochen und hat hohes Fieber bekommen. Es geht ihm sehr schlecht.“
    „Von einer Blutfliege also. Von was für einer Blutfliege denn?“
    Der junge Mann stutzte, gab aber dann bereitwillig eine Beschreibung des fraglichen Insekts ab. Bodowin hörte jedoch nur mit halbem Ohr hin. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu den Möglichkeiten zurück, die ein warmer, atmender, lebendiger Körper ihm bieten würde. Dann drückte er dem Jungen, der sich überflüssigerweise als Marvin vorgestellt hatte – als ob Bodowin gewillt wäre, sich den Namen eines jeden dahergelaufenen Neubürgers zu merken!-, eine lange Liste lästiger Erledigungen sowie einen Stapel Zettel für die Aushangtafeln in Silbach in die Hand, um ihn für eine Weile beschäftigt zu halten. Einen solchen Heiltrank zu brauen war ein Kinderspiel, das jeder drittklassige Orkschamane im Schlaf beherrschte, aber dieser Junge musste dringend noch lernen, dass Bodowins Zeit kostbar war. Wer konnte sagen, wie lange diese Vrazka noch atmen würde?
    Bevor Marvin sich zum Gehend wandte, wies auf die Frau. „Wird sie… sterben?“
    „Der Tod hat viele Gesichter“, erwiderte Bodowin vage. „Aber ich werde mein Möglichstes tun, dass der Tod sie sich nicht allzu schnell holt.“
    Das war die reine Wahrheit. Dafür war sie viel zu wertvoll in dem Zustand, in dem sie sich befand.
    „Danke“, sagte der Junge mit so tiefer Ergriffenheit, dass sich Bodowin nun doch ein Lachen verkneifen musste. „Danke im Namen aller Flüchtlinge, die dieses Schicksal erleiden müssen.“
    „Jaja“, winkte Bodowin ab und tat so, als hustete er in sein Taschentuch.
    Kaum hatte Marvin die Tür hinter sich geschlossen, hatte er den Jungen, dessen Bruder und die Blutfliege schon beinahe wieder vergessen. Der Heiltrank konnte warten. Nun gab es Wichtigeres zu tun.

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    Als Martha das westliche Stadttor von Archolos erreichte, war sie für einen Moment davon überzeugt, dass die Stadt verlassen sei, eine Geisterstadt mit blinden Fenstern und Türen, die im steten Wind, der vom Meer kam, leise in den Angeln quietschen, auf und zu, auf und zu, während die Wogen an den Kai schlugen und ihr Echo durch die menschenleeren Gassen irrte. Auf dem Weg war sie an einigen Fuhrwerken vorbeigekommen, die einfach auf der geschotterten Straße standen, leer und verlassen, als habe die Katastrophe jetzt damit begonnen, die Bürger von Archolos einen nach dem anderen verschwinden zu lassen. Es standen keine Wachen am Tor, und eine kleine schlanke Birke, die nahe der Stadtmauer wuchs, war abgeknickt und lag quer über dem Weg. Martha raffte ihr Kleid und stieg über das Gewirr von dünnen gelbbelaubten Ästen. Wenn sich Morris oder Lorenzo nicht mehr darum kümmerten, ob die Stadt bewacht wurde und die Wege passierbar waren, dann war Archolos wohl genauso am Ende wie Silbach. Martha hätte gerne Empörung und Verärgerung darüber empfunden, dass die Würdenträger der Hafenstadt, die sich fürstlich bezahlen ließen, es nicht einmal schafften, eine jämmerliche Birke vom Weg schleppen oder irgendeinen verschnarchten Wachposten am Tor aufzustellen, aber es war ein anderes Gefühl, das ihr in die Glieder sickerte wie kaltes Meerwasser.
    Martha hatte Angst. Angst davor, dass sie durch das Tor trat und die Stadt wirklich leer und verlassen vorfand, weil sich die Städter längst abgesetzt hatten oder in ihren feinen Stadthäusern gestorben waren und unter dem trüben Himmel vor sich hinfaulten, oder vielleicht hatte sie sich die braven Leute geholt und in die Kanalisation verschleppt, wo blinde, augenlose Wesen mit gewaltigen Kiefern voller rasiermesserscharfer Zähne…
    „Reiß dich zusammen, Martha“, schalt sie sich, nicht eben leise.
    „Wie bitte?“, antwortete eine Männerstimme amüsiert.
    Aus dem Tor trat ein junger Mann in Araxos-Kluft, kein Läufer, sondern ein Söldner.
    Martha musste einen Laut der Überraschung unterdrücken. Sie ließ sich nicht gerne kalt erwischen, schon gar nicht in einem Moment der Schwäche.
    „Fühlt sich hier denn niemand mehr zuständig für die Sicherheit der Stadt?“, fuhr sie den Söldner an.
    Der Mann lächelte ein wenig zu charmant für Marthas Geschmack.
    „Um den Baum kümmern sich nachher die Jungs von der Werft, das hat Lorenzo angeordnet, und was die Torwachen betrifft… diese faulen Hunde haben wohl die Gunst der Stunde genutzt und blaugemacht. Roderich wird nicht erfreut sein, wenn er das erfährt. Falls er es je erfährt. Ich bin übrigens Caramon.“
    Martha spürte, wie ihre Knie weich wurden vor Erleichterung.
    „Sie sind also alle noch da?“, fragte Martha und verfluchte sich gleich danach für diese dumme Frage, die sie wie einen Schwächling oder eine Verrückte aussehen ließ.
    „Wer? Die Wachen?“
    „Genau. Die pflichtvergessenen Faulpelze, die hier stehen sollten.“ Martha war schon immer gut darin gewesen, sich schnell wieder zu fangen, falls sie ihre eiserne Contenance doch einmal verlieren sollte.
    Caramon legte die Stirn in Falten. „Ich hoffe es zumindest. Aber es sind einige von Roderichs Jungs desertiert, seit es mit der Stadt bergab geht, und bei uns sieht es auch nicht viel besser aus. Jeden Tag machen sich Leute davon, in der Hoffnung, dass es irgendwo anders besser wäre als hier, aber ich glaube da nicht dran.“
    „Danke, Vrazka, für alles“, sagte Martha bitter.
    „Ja genau“, lachte Caramon. „Morris glaubt, dass diese Vrazka-Geschichte ein besonders subversiver Versuch der Anarchisten ist, die Moral in der Stadt zu unterminieren. Andere behaupten, es sei eine Art Kunstprojekt eines völlig durchgeknallten Spaßvogels aus der Altstadt, der dafür jede Menge Geld in die Hand genommen hat, und wieder andere halten Vrazka für eine Art böse Hexe des Westens, die aus den Eingeweiden der Kanalisation geschlüpft ist.“
    Martha wog diese Vermutungen gegeneinander ab, aber keine bot ihr eine stimmige Erklärung.
    „Was glaubst du denn?“, fragte sie forsch.
    Caramon überlegte einige Augenblicke lang. „Realistisch betrachtet kann Vrazka, falls sie eine reale Person ist, weder das Wetter beeinflussen noch Mauern zum Einsturz bringen – es sei denn, sie hat einen verdammt großen Vorschlaghammer dabei.“ Er lachte, dann fuhr er fort: „Aber ich habe so meine Zweifel, dass sie überhaupt eine Person ist. Niemand kennt sie, niemand hat sie je gesehen, außer auf den Portraits, die immer wieder an den Anschlagtafeln auftauchen. In letzter Zeit wird es auch auf Hauswände gezeichnet, einmal sogar auf den Vorplatz der Innoskirche. Und was soll der Dank? Ich persönlich habe ihr nichts zu verdanken, du vielleicht?“
    „Nein. Im Gegenteil“, stieß Martha aus. Sie konnte nicht in Worte fassen, dass sie sehr wohl glaubte, dass Vrazka hinter dem ganzen Schlamassel steckte, ohne sich dabei wie eine Spinnerin zu fühlen. Natürlich schlich diese Frau nicht nachts über Insel, bewaffnet mit einer Säge und dem eben erwähnten Vorschlaghammer, vergiftete die Bäche oder belegte das Vieh mit Flüchen. „Aber irgendeinen Zusammenhang muss es doch geben!“
    Caramon zuckte die Schultern. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber viele glauben, dass es einen gibt, da hast du recht. Ein großer Teil der Bürger dieser Stadt ist in diesem Moment auf dem Marktplatz zusammengekommen, wo unser stadtbekannter Astrologe den Leuten erzählt, dass das alles auf eine kosmische Katastrophe zuläuft. Und die Leute fressen ihm aus der Hand.“
    „Eine kosmische Katastrophe?“
    „Ein Tag hat vierundzwanzig Stunden, nicht wahr? Das weiß jeder.“
    Martha nickte, unschlüssig, worauf der Araxos-Söldner hinauswollte.
    „Wenn man es genau nimmt, hat ein Tag eigentlich nur dreiundzwanzig Stunden und sechsundfünfzig Minuten. Und wohl ein paar Sekunden.“
    „Aha“, erwiderte Martha. Vielleicht war Caramon der Spinner hier.
    „Deswegen gibt es das Schaltjahr“, fuhr Caramon fort, und das klang in Marthas Ohren schon wieder etwas vernünftiger. Das stimmte nämlich, und soweit sie wusste, war der zusätzliche Tag alle vier Jahre tatsächlich dazu da, irgendeinen Ausgleich zu schaffen.
    „Dieser Astrologe, der gerade die Gehirne unserer braven Mitbürger einseift, will mit seinen teuren Messinstrumenten herausgefunden haben, dass ein Tag jetzt vierundzwanzig Stunden und zwei Minuten dauert.“
    „So ein Unfug“, antwortete Martha, aber ganz sicher war sie da nicht. Sie hatte schließlich nicht nachgemessen.
    „Was bedeuten würde, dass sich unser Planet langsamer dreht“, schloss Caramon seine Erklärungen.
    „Dreht sich langsamer?“ Martha war fassungslos. „Wie soll das denn passiert sein?“
    „Ich habe keine Ahnung, aber es gibt genügend Leute, die glauben, dass wir das Vrazka zu verdanken haben.“
    Vor Marthas Augen entstand ein Bild, das Bild Vrazkas, der großen kosmischen Mutter, die in den Ruhestand ging und das Schwungrad, das das Universum antrieb, links liegen ließ. Und das Universum verabschiedete sich von ihr.
    „So ein Unfug“, wiederholte sie, mehr zu sich selbst. Eins stand fest: Diesen Zirkus würde Martha nicht mitmachen.
    „Genau das habe ich auch ges…“ Caramon brach ab und starrte auf eine Stelle über Marthas Kopf. Seine Augen weiteten sich. Martha dreht sich um und sah, was Caramon so aus der Fassung brachte.
    Es brachte sie auch aus der Fassung.
    Über den Wipfeln des Wäldchens, das sich im Westen der Stadt ausbreitete, erhob sich majestätisch ein großer Heißluftballon. Ein Korb, augenscheinlich menschenleer, wiegte sich sanft unter dem geblähten Stoff, und ein Feuer, das die Luft im Ballon erhitzte und ihn fliegen ließ, ließ die Stoffhülle wie durch Magie erglühen. Von dieser Hülle, von innerem Feuer leuchtend, lächelte das Gesicht Vrazkas herab, schön und ein wenig verlebt, riesig auf dem gespannten Tuch, so dass man es sicherlich von jedem Platz in der Stadt, von jeder Straße, aus jedem Fenster erkennen konnte. Der Ballon drehte sich im leichten Wind, während Martha, Caramon und vermutlich jeder Bürger der Hafenstadt hinaufstarrten, und nun konnte man den Schriftzug auf der Rückseite lesen: DANKE FÜR ALLES, VRAZKA!
    Das schlug doch dem Fass den Boden aus! Martha riss den Blick von dem unwirklichen Anblick los, ließ Caramon, dessen Augen immer noch an dem Ballon zu kleben schienen, stehen und stapfte mit energischen Schritten durch das Westtor. Sie musste Lutz finden, und wenn sie auf dem Weg noch diesen verrückt gewordenen Astrologen in die Finger bekam, umso besser! Sie hoffte fast, von einem Landstreicher, Bettler oder Herumtreiber belästigt zu werden, denn ihr Bedürfnis, jemanden gründlich büßen zu lassen für die Verwirrung, die sie empfand, war unermesslich. Doch die wenigen Menschen, denen sie auf den verschlungenen Wegen durch die Stadt begegnete, starrten entweder in den Himmel, oder sie hielten den Blick so fest auf die eigenen Füße geheftet, dass sie Martha gar nicht wahrnahmen.

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    Vrazkas Lider flatterten, ihr Körper begann zu krampfen. Ihr rechter Fuß zuckte, als trete sie nach der unsichtbaren Gestalt des Todes, die sich ohne Zweifel ganz in ihrer Nähe befand, sich vielleicht bereits über sie beugte und ihr mit kalten Lippen einen brennenden Kuss auf die Stirn drückte. Ihre Hände begannen einen hirnlosen Takt auf den Tisch zu trommeln, auf dem sie – zugegeben nackt und wenig komfortabel fixiert – lag. Mit Missfallen bemerkte Bodowin, dass die Frau gerade sich und den Tisch eingenässt hätte, aber das war nicht das schlimmste Problem, dem sich der Alchimist gegenübersah. Die Anfälle häuften sich. Das aufgeweichte Gehirn dieser Frau feuerte in einem letzten Aufbäumen Gewitterstürme, die den leblosen, aber noch warmen und atmenden Körper in Aufruhr versetzten. Die Tränke und Tinkturen, die Bodowin an diesem exzellenten Objekt versuchte, trugen mit Sicherheit auch nicht dazu bei, ihr vegetatives Dahinsiechen schonend zu gestalten. Feuerwurzel war nunmal ein hochpotentes und riskantes Kraut, aber die Möglichkeiten…! Diese Vrazka war ein zähes Stück, das musste der Neid ihr lassen. Bodowins Amtsvorgänger war dagegen eine echte Memme gewesen, weinerlich, ständig unzufrieden mit seiner Lage und ziemlich unkooperativ. Immer wieder hatte er sich die Handgelenke an seinen Fesseln wundgerieben, ein Unterfangen, das ebenso sinn- wie fruchtlos war und ihm, Bodowin, nur den Ärger und die Last einer ständigen Wundpflege aufgebürdet hatte. Von dem ausdauernden Gejammer, dem hündischen Betteln und den bemühten Schmeicheleien einmal ganz abgesehen. Der Mann hatte sich als echte Last entpuppt, und sehr viel weitergekommen war Bodowin auch nicht, was Bodowin auf dessen widerständige Verhalten zurückführte. Mit Vrazka war das etwas ganz anderes: Fügsam, sanft, und dabei zäh und duldsam. Warum konnten nicht alle Menschen so sein wie sie? Es war fast schade, dass er sie erst so spät kennengelernt hatte. Denn nun schien auch Vrazkas Zeit abzulaufen. Beinahe hätte Bodowin ihr die Hand getätschelt, die nun schlaff neben ihrer Hüfte lag. Die unheimliche Kraft, die ihren Körper eben noch durchzuckt hatte, war wieder aus ihr gewichen, einfach hinausgeflossen wie der Urin, der nun von der Tischplatte tropfte. Das Leben, das Arbeiten… das war nichts anderes, als dem Tod bei der Arbeit zuzusehen. Immerhin hatte er diesen stumpfsinnigen Tölpel, der den Heiltrank haben wollte, dazu gebracht, einen Aushang in Silbach anzubringen, vermittels dessen er eine neue Hilfskraft anzuwerben gedachte. Doch wie Vrazka würde sie bestimmt nicht sein. Bodowin seufzte und wollte sich gerade abwenden, um einen Lappen zu holen, verharrte dann aber doch. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Er beugte sich über die reglose Frau und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, dorthin, wo der Tod sie geküsst hatte. „Danke Vrazka, danke für alles.“

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    Es dämmerte bereits, als Martha die Straße zum Hafen hinunterging. Es war zu früh dafür, und da der Tag ja nun sogar länger war als vierundzwanzig Stunden, war es mehr als zu früh. Martha lachte trocken auf, denn ganz offensichtlich war es zu spät, zu spät für sie alle und diese vermaledeite Insel. Die Straße hatte sich in eine Schattenlagune verwandelt. Es wurde kühl, und vom Meer zog ein Geruch von Salz und Fäulnis auf.
    Hinter den ersten Fenstern wurde Licht entzündet, nach und nach glomm eine Lampe nach der anderen auf, ein tröstliches Lichtermeer in diesen düsteren Zeiten. Wieder lachte sie auf. Wann war sie so lachhaft sentimental geworden?
    Sie passierte einen Durchgang, direkt neben dem Anwesen der Araxos-Gilde, dessen Innenhof heute ziemlich leblos in den anschwellenden Schatten lag. Sie konnte eine Gestalt ausmachen, die den Hof fegte, aber mehr Leute waren nicht zu sehen, abgesehen von einem Obdachlosen, der auf dem Boden hockte und ihr die Hand um ein Goldstück entgegenstreckte. An jedem anderen Tag hätte sie dem faulen Hund einen Vortrag darüber gehalten, wie sauer eine alleinstehende Frau wie sie ihren Lebensunterhalt zu verdienen hatte, während er – wahrscheinlich kräftig und kerngesund – sich tagein, tagaus den Hintern auf dem Pflaster der Hafenstadt plattsaß. Heute jedoch fehlte ihr dazu die Kraft. Sie wollte erst an ihm vorübergehen, als existiere er gar nicht, aber was sollte das noch retten? Sie hatte sich ausgemalt, wie sie Lutz ihre verlorenen hundert Goldstücke in jeder erdenklichen Weise um die Ohren schlug, bis ihm Hören und Sehen verging, aber wozu das noch? Was bekam sie denn für Gold? Einen Korb fauler Rüben und schleimiger Kürbisse vielleicht. Ein totgeborenes Lamm oder eine Flasche essigsaurer Plörre, die zu einer anderen Zeit Wein hätte sein können. Sie blieb stehen, zog ihre Geldbörse hervor und schüttete deren Inhalt in den Schoß des Bettlers. Es war kein Vermögen, aber das Tagesgeschäft dürfte der Mann für heute als abgeschlossen betrachten. Er sah zu Martha hoch und setzte offenbar gerade zu der Dankeslitanei an, die er sich für die besser zahlenden Kunden zurechtgelegt hatte, wie sie vermutete, als das Lächeln auf seinem Gesicht erst gefror und dann gänzlich in sich zusammenfiel. Er blickte über ihre Schulter hinweg, wie es vorhin Caramon getan hatte, und in einer geradezu alptraumhaften Wiederholung von Caramons Geste zeigte er auf etwas, das sich hinter Martha abzuspielen schien. Sie drehte sich um und folgte seinem zitternden Finger zum Gebäude der Händlergilde, das herrschaftlich aus der Dunkelheit ragte. In einem der dunklen Erkerfenster über dem schwarzen Rasenfleck tauchte ein Gesicht auf, gebildet aus leuchtenden Linien von Licht und Schatten, lächelnd und schön, aber etwas verlebt. Martha wandte sich wieder zu dem Bettler um, um ihn zur Rede zu stellen oder sich in anderer Weise Abhilfe zu verschaffen, doch während sie den Kopf drehte, unendlich langsam, wie es schien, folgte ihr ein Kranz aus Vrazka-Gesichtern, die in allen Fenstern erschienen, über die ihr Blick wanderte. Danke für alles!, war darunter zu lesen. Es waren Dutzende, wenn nicht Hunderte oder gar Tausende, falls es gerade in ganz Archolos geschah.
    Martha ließ den Bettler sitzen und eilte weiter die Straße hinunter, beobachtet von Vrazka, begleitet von deren Lächeln, eine Schar Gespenster, die in den dunklen Gassen schwebte. Ihr Blick wanderte zum Nachthimmel, und sie befürchtete, dass statt eines Mondes Vrazkas Gesicht herablächelte, doch die Nacht war mondlos, und das war gut, denn wie hätte sie damit umgehen sollen? Als der Adanosschrein in Sicht kam, gab sie es auf, im Schritttempo zu gehen und rannte, unter Vrazkas allgegenwärtigem Blick, die Straße hinab zu dem Gasthof, den Lutz ihr genannt hatte. Hier und da standen Leute und starrten auf die Gesichter oder gestikulierten herum und taten ähnlich nutzlose Dinge. Als sie das Hotel erreichte, sah sie eine Gestalt vor der Tür stehen, mit einer Lampe in der Hand.
    Martha erkannte ihn sofort. Innos, sie hätte ihn unter Hunderten oder Tausenden erkannt, vielleicht unter allen Männern, die es auf dieser von den Göttern verlassenen Insel gab.
    Sie vergaß die Goldstücke, sie vergaß den bitteren Geschmack der Enttäuschung, der ihr seit jenem Unglückstag so hartnäckig auf der Zunge gelegen hatte und flog Lutz entgegen. Er ließ die Lampe fallen und schloss Martha in die Arme, und so standen sie eine Weile da, nicht wie leidenschaftlich Verliebte, sondern wie Überlebende.
    Lutz musste Martha mit sanfter Gewalt von sich schieben, um sich aus ihrer Umarmung zu lösen – Ich umklammere ihn ja wie ein Kraken, dachte sie, halb amüsiert, halb betroffen – und sah sie an. Sein Gesicht sah im Licht der Kerze, die auf dem Boden weiter vor sich hin flackerte, blass und eingefallen aus.
    „Die Flotte…“
    Martha ließ ihren Blick über das Hafenbecken schweifen. Es war dunkel, und sie konnte nichts erkennen, keine Umrisse königlicher Kriegsschiffe, keine Masten, die aus der Finsternis stachen, nicht einmal den Schemen eines Fischerbootes.
    „Die Flotte?“ wiederholte sie verständnislos, aber dann brach eine Erkenntnis über sie herein wie ein Schwall eisiges Hafenwasser.
    „Ist die Flotte etwa ohne uns abgefahren?“
    Lutz schüttelte den Kopf.
    „Nein, sie ist versunken.“
    Er versuchte, sie wieder in die Arme zu schließen, aber Martha schob ihn energisch von sich weg.
    „Wie bitte? Erzähl mir doch keinen Unsinn! Hast du eine Vorstellung, wie schrecklich die letzten Tage, nein, die letzten Wochen für mich waren? Die letzten Monate sogar?! Wage es nicht, mich zu…“
    Sie brach in Tränen aus, denn sie wusste, dass Lutz die reine Wahrheit gesagt hatte, natürlich hatte er das, denn es waren alle Schiffe versunken, alle Schiffe vor Archolos, vielleicht alle Schiffe auf der ganzen Welt.
    Trotzdem fragte sie leise: „Ob es nur hier passiert ist?“
    „Wahrscheinlich überall. Sieht ganz so aus, als käme bald das…“
    Schnell zog sie ihn an sich und umarmte und küsste ihn, und er wirkte erleichtert, dass sie ihn daran gehindert hatte, das letzte Wort auszusprechen.

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    „…Ende?“
    Der junge Kerl – Marvin oder so ähnlich, dachte Bodowin – beugte sich über den leblosen Körper der Frau, das Gesicht so voll ehrlicher Betroffenheit, dass es schon fast wie eine Karikatur aussah, und berührte vorsichtig ihre Hand.
    „Was?“ fragte Bodowin.
    „Ob ihr Ende kommt, wollte ich wissen.“
    Bodowin machte eine vage Handbewegung. Die Frau lag in den letzten Zügen, das sah jeder, selbst ein Trottel wie dieser Junge musste das sehen. Doch Bodowin war in ungewohnt gefühlsseliger Stimmung. Konnte es sein, dass er selbst trauerte?
    Ungehalten schüttelte er den Kopf, was der Dämlack vor ihm sofort auf sich bezog.
    „Du kannst mir die Wahrheit sagen“, sagte Marvin, „Du musst mich nicht schonen.“
    Bodowin fühlte sich aus ihm selbst unerklärlichen Gründen bemüßigt, etwas zu sagen: „Sie hat keine Schmerzen. Das ist vorbei.“ Ihm kam der Verdacht, dass er das nicht für den Jungen, sondern für sich selbst gesagt haben könnte.
    „Warum tun die Götter so etwas? Warum lassen sie es zu?“, fuhr Marvin auf.
    „Die Wege der Götter sind ein Geheimnis“, zitierte Bodowin irgendeine Plattitüde, die er hin und wieder aus dem Mund eines Priesters gehört hatte, so vage und kleinmütig wie alles, was die Robenträger von sich gaben.
    „Geheimnisse sollten in Märchenbüchern bleiben, wo sie hingehören“, sagte Marvin düster.
    Weil der Tod alle Geheimnisse zunichtemachte, dachte Bodowin. Aber er sagte: „Der Tod hat viele Gesichter, und er holt uns alle.“
    „Wenn mich das trösten soll, musst du dich mehr anstrengen.“
    Als ob es darum ging, den kleinen Dämlack zu trösten! Wenn hier einer Trost brauchte, dann war es Bodowin selbst. Die Frau, Vrazka, hatte ihm zu einem ganz neuen Gefühl verholfen, das ihm bislang unbekannt gewesen war: Dankbarkeit. Er war ihr aufrichtig dankbar für die Zeit, die sie mit ihm verbracht hatte. Auch wenn sie natürlich ein wenig still gewesen war.
    „Das Gehirn des Menschen ist auf den ersten Blick nichts Besonderes“, sinnierte Bodowin. „Es ist ein Schwamm aus Fett in einem engen Knochenkäfig, aber der Geist, der darin wohnt, ist grenzenlos. Seine Vorstellungskraft überschreitet jedes Verständnis von Raum und Zeit.“
    Marvin sah ihn schweigend an, ganz gelehriger Schüler, der an den Lippen eines alten weisen Mannes hing, und Bodowin fuhr fort: „In jedem Menschen existiert eine ganze Welt, ein ganzes Universum, und wenn wir sterben, stirbt diese Welt mit uns. Sie verschwindet einfach, oder vielleicht löst sie sich langsam auf und bricht zusammen.“
    „Und jetzt stirbt die Welt in ihr?“, fragte Marvin.
    Bodowin nickte bedächtig. Der Gedanke hatte etwas Tröstliches, fand er. All die Bewohner der Welten, die in dieser Frau existiert hatten, all die Bewohner betrauerten sie nun, litten mit ihr, und so war sie nicht allein auf dem Weg, den sie nun gehen musste. Er legte Vrazka eine Hand auf die eiskalte Stirn, die andere auf die Brust, die sich kaum noch spürbar hob und senkte. Bodowin und Marvin lauschten den beinahe unhörbaren Atemzügen Vrazkas, sahen zu, wie sich ihre Brust schwach hob und senkte, hob und senkte, hob und senkte. Und flach blieb.
    Danke für alles.

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    Martha und Lutz saßen auf einer Bank an der Hafenmole, eng aneinandergeschmiegt und hielten sich an den Händen. Es gab nichts mehr zu tun. Sie betrachteten die Sterne, die über den schwarzen Himmel dahingestreut waren.
    „Da oben ist der Ochse“, sagte Martha und deutete auf eine Ansammlung funkelnder Punkte. „Und da, das ist der Krieger.“
    Sie stutzte. „Hast du das auch gesehen?“
    „Ja. Der nördlichste Stern des Kriegers ist gerade erloschen.“
    „Lutz, ich habe Angst“, sagte sie. Trotz der Angst musste sie ein hysterisches Kichern unterdrücken und den manischen Impuls, die Melodie des alten Kinderlieds Weißt du wieviel Sternlein stehen? zu summen, denn es würden bald gar keine Sternlein mehr stehen.
    „Ich auch“, antwortete Lutz, und dann sahen sie zu, wie ein Stern nach dem anderen erlosch, erst einzeln, dann zu Dutzenden und Hunderten. Und während um sie herum das ganze Universum in Dunkelheit versank, wandten sie sich einander zu und sagten beinahe gleichze

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