Der Hunger siegte, überwog das abstoßende Gefühl, welches das durchweichte, rohe Stück Fleisch in ihr auslöste. Vorsichtig streckte sie die Hand nach dem Brocken aus. Ihre Augen spiegelten den inneren Konflikt wider – der Widerwille gegen das Wildfleisch, das vor ihr lag, und die Notwendigkeit, es zu essen. Zarra spürte die seltsam weichen Fasern und stabilen Sehnen, die es durchzogen. Ein Blick auf die Harpiye in der Ecke, die sich wieder schützend unter ihren Flügel verzogen hatte. Langsam zog sie sich über den Boden in eine andere Ecke des Raumes, wo das Dach nicht so löchrig war wie dort, wo sie derzeit lag. Dieses Mal kam keine Ermahnung durch die Vogelfrau, die wohl der Meinung war, dass ihre Beute nicht entwischen würde können so geschwächt wie sie war. Mühsam richtete sich die Weißhaarige soweit auf, dass sie ihren Rücken gegen das Innere der Außenwand lehnen konnte. Über ihr tobte noch immer das Gewitter, welches Blitz und Donner brachte.

Unverwandt starrte sie auf das Fleisch in ihren Händen, welches bereits ihre Haut rot färbte. Der Regen hatte es noch mehr aufgeweicht und es wirkte nahezu ungenießbar. Dennoch führte sie es langsam zu ihrem Mund. Ihre Nase kräuselte sich bei dem erdigen, metallischen Geruch, der so fremd und doch so zwingend war. Für einen Augenblick übertönte es sogar den Gestank, der trotz des reinigenden Regens in der Dachkammer vorherrschte.
Als das Fleisch ihre Lippen berührte, schloss sie die Augen, um sich von der Realität abzuschotten. Mit einem Mal biss sie hinein, die Kälte des Fleisches breitete sich in ihrem Mund aus, gefolgt von einer Flut an Geschmack, die sie nicht zuordnen konnte. Es war ein Kampf, jedes Kauen zu ertragen, während ihr Magen sich umzudrehen drohte. Aber sie musste durchhalten, hatte keine Wahl. Nach einem tiefen Atemzug schluckte sie schließlich den ersten Bissen herunter, welcher in ihrer Kehle verschwand.

Zarra konnte trotz des prasselnden Regens, des heulenden Windes und des schlagenden Donners hören, wie das Blut durch ihre Ohren rauschte. Ein stetiges Pochen, das im Einklang mit ihrem beschleunigten Herzschlag stand. Der Geschmack des Fleisches war intensiv, fast erstickend. Mit jedem Bissen, den sie nahm, spürte sie, wie es gegen ihre Zunge drückte, wie es sich langzog, ehe es schließlich nachgab. Es war eine Erfahrung, die alle Sinne beanspruchte, eine, die sie so schnell nicht vergessen würde.
Die Notwendigkeit, zu überleben, trieb sie an, doch in ihrem Innersten wusste sie, dass diese Mahlzeit sie verändern würde, vielleicht für immer. Sie, die möglichst auf Fleisch verzichtet hatte, wenn ihr die Wahl gegeben wurde. Trotz des Überlebensinstinkts, der sie dazu zwang, weiterzumachen, konnte sie nicht verhindern, dass sich Schuldgefühlte in ihr ausbreiteten. Es war, als ob sie mit jedem Bissen einen Teil ihrer Selbst aufgab. Die Verzweiflung in ihren Augen war greifbar, ein stummer Schrei nach Erlösung von dieser Tortur. Sie fühlte sich gefangen in einem Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab.

Die Ambivalenz ihrer Gefühle war überwältigend – einerseits der tiefe Widerwille gegen das, was sie tat, und andererseits die Erleichterung, dass sie noch am Leben war. Diese Mahlzeit war ein Symbol für ihren Überlebenswillen, ein Akt, der sie mehr verändern würde, als sie sich vorzustellen vermochte und sie eine Grenze überschreiten ließ, die sie jenseits ihrer emotionalen Belastbarkeit führte.

Nachdem sie das Fleisch komplett gegessen hatte, überkam sie erneut eine Mischung aus Ekel, Erleichterung und Schuldgefühlen. Ihre Hände waren besudelt vom wässrigen Blut und auch ihre Lippen und Kinn zeugten von der Tat. Der metallische Geschmack klebte noch immer an ihrem Gaumen, und sie spürte, wie ihr Magen rebellisch auf die ungewohnte Nahrung reagierte. Doch gleichzeitig fühlte sie sich lebendig – eine Überlebende in dieser gnadenlosen Welt, von der sie erst kürzlich das wahre Antlitz zu Gesicht bekommen hatte. Die Erleichterung darüber, dass sie den Akt des Verzehrs hinter sich gebracht hatte, kämpfte mit der moralischen Last, die sie nun trug. Ein Moment der Zerrissenheit, der sie für immer begleiten würde.